Demokratie beruht auf dem Versprechen politischer Gleichheit, knapp zusammengefasst in der Formel: “one woman, one vote”. Marktwirtschaften produzieren hingegen permanent ungleiche Verteilungen von Einkommen und Vermögen. Wie verhalten sich diese Formen der (Un)gleichheit zueinander?

„Demokratie und Markt sind ein Geschwisterpaar, eines allerdings, das nicht in natürlicher Harmonie lebt. Demokratie trägt von Anbeginn an den ‚Geist der Gleichheit‘ in sich, während Märkte Orte der Ungleichheitsproduktion darstellen. Aus historischer Perspektive kann man das Verhältnis von politischer Gleichheit und ökonomischer Gleichheit als äußerst spannungsreich beschreiben. Beide wirken aufeinander ein: Ökonomische Ungleichheit kann, sofern sie zu groß wird, die Möglichkeitsbedingungen von Demokratie in Bedrängnis bringen.
Umgekehrt kann die Massendemokratie die Ungleichheit der Märkte eindämmen und Marktfunktionen erheblich verändern. Zugleich kann die Demokratie durch die Eindämmung markterzeugter Ungleichheiten massiv auf die Struktur des sie tragenden Gemeinwesens einwirken. Demokratie sollte zwar nicht Ungleichheiten vollständig eliminieren (sie hat es in der Realität auch nie getan), aber doch so verändern, dass Gleichheit in der politischen Teilhabe möglich wird.

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der trente glorieuses in den westlichen Gesellschaften der Nachkriegszeit, welche nicht nur durch ein ausgeprägtes Wirtschaftswachstum, sondern auch durch eine relativ ausgeglichene Einkommens- und Vermögensverteilung gekennzeichnet war, glaubten viele Beobachter, dass die Durchsetzung der Demokratie quasi automatisch in einen Ausbau der Umverteilungsmaschinerie des Staates münde.

Unter Bedingungen einer Mehrheitsdemokratie, so das Argument, gäbe es eine natürliche Tendenz der Mehrheit, die vorhandenen politischen Einflussmöglichkeiten (hier ist vor allem an Wahlen gedacht) zu nutzen, um die eigenen Status- und Verteilungsinteressen zu befriedigen. Demokratische Gleichheit wirkt dergestalt auf sozio-ökonomische Ungleichheit ein [und] macht Gesellschaften weniger ungleich […].

Wahlabstinenz unten, Drohpotential oben

Die große Kehrtwende in der Ungleichheitsentwicklung […] hat in den meisten westlichen Industrienationen seit Mitte bzw. Ende der 1980er Jahre bis heute die Einkommens- und Vermögensungleichheit erhöht. Die korrosive [=zersetzende] Wirkung exzessiver Ungleichheit auf die Gesundheit und die Qualität der sozialen Beziehungen ist hinlänglich belegt […], aber auch die demokratische Qualität einer Gesellschaft kann leiden, wenn sich ökonomische Ungleichheit in politische Ungleichheit übersetzt.

Eine sinkende Wahlbeteiligung gibt es in fast allen westeuropäischen Demokratien. Je größer die ökonomische Ungleichheit, desto größer sind die Ungleichheiten in der politischen Beteiligung, wobei die zunehmende Distanz vom Prozess der politischen Willensbildung vor allem in den unteren Schichten zugenommen hat.

Beteiligung an Bundestagswahlen in Deutschland nach Einkommen (2002–2018, in Prozent)

Beteiligung an Bundestagswahlen in Deutschland nach Einkommen (2002–2018, in Prozent) von Julian Becker, CC BY-SA 4.0 International (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/). Quelle der Daten: 7. Armuts- und Reichtumsbericht des Bundesministerium für Arbeit und Soziales, ALLBUS.

Hinweis: Den abgebildeten Daten liegen nicht offizielle Angaben zur Wahlbeteiligung zu Grunde, sondern es handelt sich um freiwillige Befragungsdaten. Im Rahmen einer repräsentativen Umfrage wird danach gefragt, ob man bei der jeweils letzten Bundestagswahl seine Stimme abgegeben hat. So beziehen sich z. B. die Angaben im Jahr 2018 auf die Bundestagswahl des Jahres 2017. In Umfragen geben die Befragten allerdings manchmal fälschlicherweise an, an der Bundestagswahl teilgenommen zu haben. Deshalb erscheint die Wahlbeteiligung hier höher, als sie tatsächlich war. Der Vorteil von Umfragedaten besteht allerdings darin, dass zugleich z. B. auch Informationen über die Einkommenshöhe erhoben werden können.

Starkes politisches Interesse nach Einkommen (2002–2018, Angaben in Prozent)

Starkes politisches Interesse, nach Einkommen (1995–2020, Angaben in Prozent) von Julian Becker, CC BY-SA 4.0 International (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/). Quelle der Daten: 7. Armuts- und Reichtumsbericht des Bundesministerium für Arbeit und Soziales, SOEP.

Während die unteren Schichten tendenziell wahlabstinent werden, haben die oberen Schichten an Einflussmacht gewonnen. Im Unterschied zu den unteren Schichten und den Mittelschichten verfügen sie über ein Exit-Drohpotenzial, das sie in erpresserischer Weise nutzen können, um Politik dazu zu bewegen, ihnen Lasten abzunehmen oder Vorteile zu gewähren. Investoren, Vermögende oder Reiche sind weniger als der Durchschnittsbürger an den Nationalstaat gebunden. Steuerwettbewerb gibt es nicht nur aufgrund tatsächlich stattfindender Wanderungen Reicher, sondern vor allem deshalb, weil sie es glaubhaft androhen können.

Zugleich ist es den Oberschichten […] in vielen westlichen Ländern gelungen, eine gewaltige „Vermögensverteidigungsindustrie“ […] aufzubauen, die […] unentwegt Einfluss zu gewinnen versucht. Dabei handelt es sich um eine Armee von Anwälten, Lobbyisten, Vermögensverwaltern, Beratern und Think Tanks, die sich darum kümmert, dass die Interessen der Vermögenden im politischen Spiel besondere Berücksichtigung finden.

Vermögenssteuern finden keine Mehrheiten

Die egalisierende [= mehr Gleichheit erzeugende] Wirkung demokratischer Gleichheit scheint damit an ihre Grenzen gestoßen zu sein. Schaut man auf öffentliche […] [Debatten] und politische Programmatiken der 1990er und 2000er Jahre, dann kann man zudem ein Einverständnis mit der Ungleichheit konstatieren, welches mit dem Vormarsch von stärker auf Marktprinzipien abstellenden Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit einhergeht. Zwar hat in den meisten europäischen Ländern eine Bevölkerungsmehrheit das Gefühl, in einer irgendwie ungerechten, weil zu ungleichen Gesellschaft zu leben, aber es gibt auch eine durchaus vorhandene Hinnahmebereitschaft, wenn nicht gar stillschweigende Toleranz größerer Ungleichheiten. […]

Es ist festzustellen, dass Vorschläge zur Erhöhung von vermögensbezogenen Steuern, zur höheren Belastung von Spitzeneinkommen oder auch zur Begrenzung von Managergehältern zwar eine gewisse Popularität haben, letztlich aber keine stabilen, politisch wirksamen Mehrheiten finden. In vielen europäischen Ländern kann man beobachten, dass Umverteilungs- oder Reichtumsbegrenzungsparteien keinen Popularitätsbonus geltend machen konnten.

Im Gegenteil, manche von ihnen, die sich im Windschatten wachsender Kapitalismus- und Ungleichheitskritik dieses Themas ernsthaft annahmen, wurden von den Wähler/innern sogar abgestraft. […] Zwar wird wachsende Ungleichheit allgemein kritisch gesehen, trotzdem präferieren [= bevorzugen] viele Menschen der Mittelschicht aber Steuersenkungen, von denen sie im Vergleich zu den Vermögenden und Hocheinkommensbeziehern weit unterdurchschnittlich profitieren.

Das Band der Gemeinsamkeit

Vor diesem Hintergrund scheint das Verhältnis von Markt und Demokratie, von ökonomischer Ungleichheit und politischer Gleichheit kritischer zu werden. […] Wenn Unterschichten sich aus dem politischen Prozess verabschieden, Mittelschichten ungleichheitstoleranter werden und Oberschichten an Einfluss und Macht gewinnen, dann verliert die Demokratie an ihrer Fähigkeit, Märkte so zu regulieren, dass gleiche Teilhabe möglich wird.

Video „Warum sollten wir uns mit Ungleichheit beschäftigen?“ von Miriam Rehm/Institut für Sozioökonomie, CC BY 3.0. Das Video wird hier von youtube.com eingebettet.

Andererseits wissen wir, dass gerade auch die Demokratie ein gutes Maß an ökonomischer Ungleichheit aushalten kann, sofern das Band der Gemeinsamkeit in einer Gesellschaft nicht zerreißt. Wir kennen keinen genauen Schwellenwert, wieviel ökonomische Ungleichheit die Demokratie genau verträgt. […] Immer dann, so könnte man es sagen, wenn sich Ungleichheiten zeitlich, räumlich und sozial verfestigen – ob in Gated Communities der Privilegierten oder abgehängten Wohnquartieren der Marginalisierten – steht auch die politische Gleichheit auf dem Spiel, auf die Demokratien zwingend angewiesen sind.“

Gekürzte Version des Textes „Wieviel Ungleichheit verträgt die Demokratie?“ von Steffen Mau, CC BY-NC-ND 3.0. Kürzungen mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

Der Text im Lernabschnitt ist eine gekürzte Fassung von „Wieviel Ungleichheit verträgt die Demokratie?“ von Steffen Mau und lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 3.0 Lizenz. Kürzungen mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

Das Diagramm „Beteiligung an Bundestagswahlen in Deutschland nach Einkommen (2002–2018, in Prozent)“ von Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: 7. Armuts- und Reichtumsbericht des Bundesministerium für Arbeit und Soziales, ALLBUS.

Das Diagramm „Starkes politisches Interesse, nach Einkommen (1995–2020, Angaben in Prozent)“ von Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: 7. Armuts- und Reichtumsbericht des Bundesministerium für Arbeit und Soziales, SOEP.

Das Video „Warum sollten wir uns mit Ungleichheit beschäftigen?“ von Miriam Rehm/Institut für Sozioökonomie ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Lizenz.

Der Text „United States of Dollars“ von Juliane Frisse im Magazin fluter thematisiert den Einfluss, den sehr reiche Personen auf die Politik in den USA haben.

Im Beitrag „Studie zu Einfluss und Ungleichheit in den USA: Macht Geld Politik?“ geht die Politikwissenschaftlerin Lea Elsässer auf die Frage ein, ob die Politik bei ihren Entscheidungen die Positionen der Reichen überdurchschnittlich berücksichtigt.

Daten zum Diagramm „Beteiligung an Bundestagswahlen in Deutschland nach Einkommen (2002–2018, in Prozent)“

Daten zum Diagramm „Starkes politisches Interesse nach Einkommen (2002–2018, Angaben in Prozent)“