Wir haben gesehen, dass Ungleichheit aus gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Perspektive als problematisch angesehen werden kann. Manche Wissenschaftlerinnen gehen jedoch davon aus, dass Ungleichheit für eine effiziente und wachsende Wirtschaft sowie eine fortschrittliche und freie Gesellschaft nötig sei. Sie stehen staatlichen Maßnahmen zur Umverteilung skeptisch gegenüber. Im folgenden Lernabschnitt schauern wir uns einige ihrer Argumente an.

Ungefähr seit den 1970er Jahren galt es innerhalb der Volkswirtschaftslehre als verbreitete Gewissheit, dass es für das BIP-Wachstum und eine effiziente Wirtschaft eher schädlich wäre, wenn durch staatliche Maßnahmen zu stark in die marktbedingte ökonomische Ungleichheit eingegriffen werde. So schreibt zum Beispiel der angesehene Wirtschaftsforscher N. Gregory Mankiw in einem weltweit verwendeten Lehrbuch über das Verhältnis von wirtschaftlicher Effizienz und gerechter Verteilung:

„Effizienz betrifft die Größe des ökonomischen Kuchens, Gerechtigkeit die Verteilung des Kuchens. Diese beiden Ziele stehen bei politischen Maßnahmen meist im Konflikt. […] Versucht die Regierung den ökonomischen Kuchen in gleichmäßigere Stücke zu schneiden, wird der ganze Kuchen kleiner.“

N. Gregory Mankiw, 2016

Mankiw geht also von einem Konflikt zwischen dem Ziel einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung und dem Ziel wirtschaftlicher Effizienz – und damit auch einem größeren Wirtschaftswachstum – aus.

Wirtschaftsforscherinnen, die diese Position vertreten, argumentieren vor allem angebotsseitig: Beispielsweise wird es kritisch gesehen, wenn der Staat durch hohe Steuersätze auf Spitzeneinkommen Einnahmen erzielt, um diese dann beispielsweise durch Sozialleistungen an ärmere Haushalte umzuverteilen. Diese hohen Steuersätze würden die besonders leistungsfähigen Bezieherinnen von Spitzeneinkommen davon abhalten, noch mehr und motivierter zu arbeiten. Ihre Leistungsbereitschaft würde also unter den hohen Steuersätzen leiden.

Auch eine zu hohe Besteuerung von Unternehmen wird abgelehnt, unter der Annahme, dass dies die Risiko- und Investitionsbereitschaft der Unternehmerinnen schwäche, was sich wiederum negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirke. Außerdem wird die Position vertreten, dass eine zu hohe Besteuerung und die Absicherung durch den Sozialstaat dafür sorgen könnte, dass die Bereitschaft zum Sparen auf Seite der Haushalte zurückgehe, was wiederum für die Investitionen und den Kapitalbestand im Land schlecht sei.

Schließlich werden als zu großzügig empfundene staatliche Sozialleistungen wie z. B. die Arbeitslosenunterstützung, die eine Verringerung der Ungleichheit bewirken, bisweilen kritisch betrachtet, weil sich so das Arbeitsangebot (also die Bereitschaft der Haushalte, ihre Arbeitskraft auf den Arbeitsmärkten zur Verfügung zu stellen) reduziere. Bei einer niedrigeren Arbeitslosenunterstützung seien die Haushalte eher bereit, auch für niedrigere Löhne zu arbeiten, was wiederum zum Wachstum des BIP beitrage. Daher wird für einen Abbau solcher Sozialleistungen plädiert. Auch andere Maßnahmen, wie z. B. die Schwächung der Gewerkschaftsmacht oder Lockerungen beim Kündigungsschutz haben ebenfalls das Ziel, für eine höhere Beschäftigung zu sorgen, wenn auch bei niedrigeren Löhnen und einer möglicherweise höheren Ungleichheit.

In Kapitel 2 haben wir uns bereits mit einem einfachen neoklassischen (angebotsorientierten) Modell befasst. Damals lag der Schwerpunkt darauf, wie damit Arbeitslosigkeit erklärt und bekämpft werden kann. Aber auch für den Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gleichheit lohnt es sich, nochmal einen Blick in das Modell zu werfen. Welchen Effekt hat hier beispielsweise eine Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung oder eine Stärkung der Gewerkschaften auf das BIP? Du musst dazu zunächst ein Häkchen bei „Arbeitsmarkt“ setzen.

Die Ökonomie des Heruntertropfens

Als politische Maßnahmen werden dementsprechend Absenkungen der Spitzensteuersätze auf Einkommen, niedrigere Unternehmensteuern und ein Rückbau staatlicher Sozialleistungen vorgeschlagen. „Mehr Netto vom Brutto“ und „Leistung muss sich wieder lohnen“ sind politische Slogans, die hiermit oft verbunden sind.

Auch der Begriff der „Trickle-Down“ („Heruntertropfen“ oder „Durchsickern“)-Ökonomie wird verwendet: Damit ist gemeint, dass die Ansammlung von Reichtum an der Spitze der Verteilung letztlich durch höhere Investitionen, mehr Arbeitsplätze und höhere BIP-Wachstumsraten auch bei den ärmeren Haushalten zu einem Anstieg des Wohlstands führt. Anstatt also den Blick auf die gleichmäßigere Verteilung des Kuchens zu richten, sollte man besser den reicheren Haushalten ihr großes Kuchenstück lassen, weil diese dann dafür Sorge tragen, dass die ganzen Kuchen der Folgejahre größer würden, und damit auch die kleineren Kuchenstücke wachsen. Die H5P-Anwendung unten illustriert die postulierte Wirkung der „Trickle-Down“-Ökonomie.

H5P-Element „Die Logik der Trickle-Down-Ökonomie“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Zweifel am Zielkonflikt

Die Gewissheit eines Zielkonfliktes zwischen einer gleichmäßigeren Verteilung und einem höheren Wachstum wird inzwischen von vielen Wirtschaftsforscherinnen bestritten. Sie sehen in Ungleichheit eher ein Hindernis für mehr Wachstum: Unter anderem argumentieren sie, dass das Wirtschaftswachstum schwächer als möglich ausfalle, wenn ärmere Haushalte nichts in ihre Ausbildung investieren könnten oder unter einer schlechten Gesundheitsversorgung litten. Beides könne ihre Produktivität verringern. Auch bremse eine niedrige gesamtwirtschaftliche Nachfrage das Wachstum aus.

Video „Ein kurzer geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der Einkommensungleichheit“ von Till van Treeck/Institut für Sozioökonomie, CC BY 3.0. Das Video wird hier von youtube.com eingebettet.

Seit einigen Jahren wird der Zusammenhang zwischen Ungleichheit, Umverteilung und Wirtschaftswachstum auch vermehrt empirisch – d. h. mit Blick auf die tatsächlichen wirtschaftlichen Daten – untersucht. Geht höhere Ungleichheit eher mit einem höheren oder mit einem niedrigeren BIP-Wachstum einher? Abschließend ist diese Frage noch nicht beantworten. Einige Studien kommen jedoch zum Ergebnis, dass eine hohe Ungleichheit eher hinderlich für Wirtschaftswachstum ist.

Der Text im Lernabschnitt„Ungleichheit: Unabdingbar für das Wirtschaftswachstum?“ von Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

GeoGebra-Element: „Arbeitslosigkeit im einfachen neoklassischen Modell“ von Julian Becker, erzeugt mit GeoGebra ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported Lizenz. Bitte beachten Sie außerdem die GeoGebra Lizenz.

H5P-Element „Die Logik der Trickle-Down-Ökonomie“: Lizenzangaben zu den Abbildungen unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Agamotto“ steht unter einer MIT-Lizenz.

Das Video „Ein kurzer geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der Einkommensungleichheit“ von Till van Treeck/Institut für Sozioökonomie ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Lizenz.

Im Text „Der ‚große Zwiespalt‘ zwischen Effizienz und Gerechtigkeit: Realität oder Ideologie?“ setzt sich Till van Treeck mit dem besonders in VWL-Lehrbüchern präsenten Zielkonflikt zwischen Umverteilung und Effizienz auseinander (CC BY-ND 3.0).