Während der Begriff „ökonomische Ungleichheit“ auf den ersten Blick eher wertneutral daherkommt, haben wir beim Wort „Armut“ unmittelbar Bilder von Leid und Mangel vor Augen. Auch in der Ungleichheitsdebatte spielt der Armutsbegriff eine wichtige Rolle. Doch seine Definition ist umstritten. Was meint man, wenn man von Armut spricht?

„Bei der Suche nach einer Armutsdefinition kann […] nicht auf irgendwelche ‚objektiven‘ Daten zurückgegriffen werden. Die Bestimmung dessen, was Armut ist, hängt von normativen Entscheidungen ab, konkret von der Definition eines Minimums.

Die Armutsdefinition kann sich nämlich, wie die EU-Kommission betont […] in einer hochentwickelten, wohlhabenden Gesellschaft nicht auf das physische Minimum beziehen. Damit wäre eine absolute Armut beschrieben, die dann vorliegt, wenn Personen nicht über die zur Existenzsicherung notwendigen Güter wie Nahrung, Kleidung und Wohnung verfügen und deren Überleben gefährdet ist. Vielmehr geht es um das weiter gefasste sozialkulturelle Minimum, das sich an der Norm eines menschenwürdigen Daseins ausrichtet, d. h. am konkreten, historisch erreichten Lebensstandard einer Gesellschaft. Eine so definierte relative Armut bezieht sich also auf Raum und Zeit.

Relative Armut wird demgemäß als Einkommensarmut verstanden, als eine Unterausstattung mit ökonomischen Ressourcen. Personen bzw. Haushalte befinden sich in Armut, wenn ihr Einkommen nicht ausreicht, um die Güter und Dienstleistungen zu kaufen, die für ein Mindestmaß gesellschaftlicher Teilhabe erforderlich sind. […]

Über die Höhe des sozialkulturellen Minimums lässt sich nicht wissenschaftlich neutral befinden, ihre Festlegung ist vielmehr von Wertentscheidungen und Konventionen abhängig. Dies bedeutet, dass die Diskussion über Existenz und Ausmaß von Armut in Wohlstandsgesellschaften immer kontrovers verlaufen wird. Es muss entschieden werden, welche Einkommenshöhe den Schwellenwert markiert.

In der nationalen wie in der europäischen Armutsforschung ist es seit vielen Jahren üblich, das mittlere Einkommen (Median) als Referenzgröße zu bestimmen und jene Personen als einkommensarm zu bezeichnen, deren Nettoäquivalenzeinkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Als Kennziffern für die relative Armutsmessung kommen Armutsrisikoquoten (bzw. als synonymer Begriff: Armutsgefährdungsquoten) zur Anwendung. Dazu werden die Anteile der armen Haushalte bzw. Personen an der jeweiligen Gesamtzahl der Bevölkerung ermittelt.

Von Armutsrisikoquoten ist deshalb die Rede, weil in die Bemessung nur laufende Einkommen einfließen, eventuell vorhandenes Vermögen findet dabei ebenso wenig Berücksichtigung wie bestehende Schulden oder Forderungen. Unterschiedliche Bedarfe, wie z. B. von Menschen mit Behinderungen, spielen ebenfalls keine Rolle.

Anteil der von Armut bedrohten Personen in % der Gesamtbevölkerung (Armutsrisikoquote) in ausgewählten Ländern Europas, 2000–2022

Anteil der von Armut bedrohten Personen in % der Gesamtbevölkerung (Armutsrisikoquote) in ausgewählten Ländern Europas, 2000–2022 von Julian Becker, CC BY 4.0 International (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/). Quelle der Daten: Eurostat. Als Grenzwert wurden hier 60 Prozent des Medianäquivalenzeinkommens nach Sozialtransfers gewählt.

Armutsrisikoquoten sind im Prinzip ebenso statistische Kennziffern der Einkommensverteilung wie Dezilanteile [z. B. Top 10 % -Anteil] […] oder Gini-Koeffizienten […]. Sie geben den abstrakten Indikatoren aber, was legitim ist, einen eingängigen Namen − und ‚Worte machen Politik‘ wie es der Sozialpsychologe Horst-Eberhard Richter einmal formulierte. ‚x Prozent sind arm‘ hat einen höheren Aufmerksamkeitswert als die Nachricht ‚y Prozent der Haushalte haben ein Einkommen von unter so und so viel Euro‘. So wird das Problem (be)greifbar gemacht.

Diesem Umstand und der Tatsache, dass die Armutsrisikoquoten deutlich höher ausfallen als die Grundsicherungsquoten […] ist es geschuldet, dass die relative Armutsmessung von Wirtschaftskreisen und auch von manchen Wissenschaftlern und Journalisten in der letzten Zeit scharf kritisiert wird […].

[…]

Die Kritik an der Verwendung von Armutsrisikoquoten reicht von simplen Versuchen, den Begriff ‚Armutsrisiko‘ durch das weniger bedrohliche ‚Armutsgefährdung‘ zu ersetzen bis hin zur Bezeichnung des Konzepts als ‚bedarfsgewichtetem Käse‘ […]. Auch wird immer wieder relativierend auf die Armut in Entwicklungsländern oder auf die Lebensverhältnisse in früheren Zeiten, so auf die Situation in den Nachkriegsjahren verwiesen. Hauptsächlich wird als Einwand vorgetragen, dass es unmöglich sei, die relative Armut zu bekämpfen, da ein Anstieg aller Einkommen auf das Doppelte die Armutsrisikoquote unverändert lasse […].

Diese Argumente berücksichtigen jedoch nicht, dass ein stärkeres Einkommenswachstum im untersten Einkommenssegment die Armutsrisikoquote durchaus gegen Null gehen lassen könnte […]. Übersehen wird zudem, dass sich auch die Leistungen der Grundsicherung und damit die Grund-/Mindestsicherungsschwellen nicht an ‚absoluten‘ Maßstäben bemessen, sondern sich genau genommen ebenfalls aus einer Relation (zu den Konsumausgaben einer unteren Einkommensgruppe) herleiten. […]“

Gekürzte Version des Textes „Relative Einkommensarmut“ von Gerhard Bäcker, Ernst Kistler für bpb.deCC BY-NC-ND 3.0. Kürzungen nach freundlicher Genehmigung der Bundeszentrale für politische Bildung.

Der Text im Lernabschnitt „Armut(srisiko) – ein weiteres Ungleichheitsmaß?“ ist eine gekürzte Fassung von „Relative Einkommensarmut“ von Gerhard Bäcker, Ernst Kistler für bpb.de und lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 3.0 Lizenz. Kürzungen nach freundlicher Genehmigung der Bundeszentrale für politische Bildung.

Die Abbildung „Anteil der von Armut bedrohten Personen in % der Gesamtbevölkerung (Armutsrisikoquote) in ausgewählten Ländern Europas, 2000–2022“ von Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: Eurostat.