Kapitel 5: Wer bekommt welches Stück vom Kuchen? Kontroversen um die Verteilung von Einkommen und Vermögen

Weder der „volkswirtschaftliche Kuchen“ , der jedes Jahr „gebacken“ wird,  noch die zu seiner Herstellung nötigen Werkzeuge (und andere Vermögensarten) sind gleichmäßig über die Bevölkerung verteilt. Ganz im Gegenteil: Wieviel Einkommen und Vermögen den Menschen zur Verfügung steht, fällt sehr unterschiedlich aus. Doch (warum) sollte uns diese ökonomische Ungleichheit überhaupt interessieren? Wie können wir sie definieren, messen und beschreiben? Und welche Möglichkeiten hat der Staat, die Ungleichheit zu beeinflussen?

Wir haben im ersten Kapitel schon gesehen, dass der „Kuchen“, der jedes Jahr in einer Volkswirtschaft entsteht – das BIP – keineswegs unter allen gleich aufgeteilt wird. Die Verteilung zwischen den einzelnen Personen oder Haushalten, aber auch zwischen den an seiner Entstehung beteiligten Gruppen (Arbeiterinnen und Besitzerinnen der Unternehmen) fällt sehr unterschiedlich aus. Und nicht nur die Verteilung des jährlichen Kuchens, also der Einkommen, ist ungleichmäßig. Noch ungleicher sind die Ausstattung der Bäckerei (also das zur Produktion nötige Kapital) und andere Vermögensgegenstände einer Gesellschaft verteilt.

Die Kuchendiagramme unten zeigen dir die Verteilung der Einkommen und Vermögen über die in Fünftel eingeteilte deutsche Bevölkerung. Das Kuchenstück des jeweils ärmsten Fünftels wird bei 12 Uhr angezeigt, und die Anteile der jeweils reicheren Fünftel folgen im Uhrzeigersinn. Falls du über Begriffe wie „verfügbare und gewichtete Haushaltseinkommen“ oder „Nettovermögen“ stolpern solltest: Kein Problem, diese werden wir uns im Laufe des Kapitels genauer anschauen. Hier geht es nur um die Frage: Hast du vielleicht schon jetzt eine ungefähre Vorstellung davon, welcher Kuchen die jeweilige Verteilung wohl am besten darstellt?

H5P-Element „Kuchenstücke der Einkommens- und Vermögensverteilung“. Quellen- und Lizenzangaben zu den Abbildungen unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Die ungleiche Verteilung der ökonomischen Ressourcen und damit auch der Lebenschancen, gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten, des sozialen Status und der Freiheiten in einer Gesellschaft waren schon immer Anlass für politische und soziale Auseinandersetzungen, gar Revolutionen. Der Wert der Gleichheit – so unterschiedlich er interpretiert werden kann– spielt für viele Menschen eine wichtige Rolle.

Auch am Beginn der Wissenschaft, die wir heute als Volkswirtschaftslehre bezeichnen, stand der Aspekt der Verteilung im Zentrum der Aufmerksamkeit (was nicht damit zu verwechseln ist, dass damals alle für eine möglichst gleichmäßige Verteilung eintraten).

So schrieb beispielsweise David Ricardo (1772–1823), einer der Gründungsväter der Erforschung der Wirtschaft, im Vorwort seines Werkes On the Principles of Political Economy and Taxation im Jahr 1817:

„Der Ertrag der Erde, alles, was durch die vereinte Anwendung von Arbeit, Maschinenwesen und Kapital aus ihrer Oberfläche erhalten wird, verteilt sich unter drei Klassen der Staatsbürger, nämlich den Grundeigentümern, den Kapitalisten, der das zur Bodenkultur erforderliche Kapital besitzt, und den Arbeiter, durch dessen Tätigkeit der Boden bebaut wird.

Aber in verschiedenen Zuständen der Staatsgesellschaft sind die Anteile des ganzen Ertrags der Erde, welche jeder dieser drei Klassen, unter dem Namen Bodenrente, Gewinn und Arbeitslohn, zufallen, wesentlich verschieden […].

Die Gesetze, nach welchen diese Verteilung stattfindet, zu bestimmen, ist die Hauptaufgabe der Nationalökonomie, und obgleich die Wissenschaft […] um Vieles weiter gebracht worden ist, so bekommt man doch […] keine genügende Aufklärung über den natürlichen Gang der Bodenrente, des Gewinns und des Arbeitslohns.“

Die Grundsätze der politischen Oekonomie oder der Staatswirthschaft und der Besteuerung, von David Ricardo, Esq. Nebst erl. und Kritischen Anm. von J. B. Say. Aus dem Engl., und, in Beziehung auf die Anm., aus dem Franz. übers. von Christ. Aug. Schmidt, Weimar 1821. Aus Gründen der Lesbarkeit wurde die Rechtschreibung der Übersetzung aus dem Jahr 1821 leicht angepasst.

Zwischenzeitlich hatte sich das Interesse der Wissenschaftlerinnen an Fragen der Verteilung spürbar abgekühlt, aber seit einigen Jahren kann Ungleichheit als ein Megathema der politischen und wissenschaftlichen Debatte gelten. Grund genug für uns, das folgende Kapitel diesem Thema zu widmen. Das machen wir in drei Schritten:

Auftakt: Ist ein ungleich verteilter Kuchen überhaupt ein Problem?

Im Auftakt stellen wir die Frage, warum eine ungleiche Verteilung überhaupt ein Problem darstellen könnte. Dazu werden verschiedene Blickwinkel eingenommen:

  • Aus gesellschaftlicher Perspektive könnte Ungleichheit dafür verantwortlich sein, dass es Gesellschaften im Ganzen schlechter geht – selbst ihren reichen Mitgliedern.
  • Aus ökologischer Perspektive könnte Ungleichheit dazu führen, dass es uns schwerer fällt, unsere Klimaziele zu erreichen.
  • Aus politischer Perspektive könnte wirtschaftliche Ungleichheit das Ziel politischer Gleichheit gefährden.
  • Aus wirtschaftlicher Perspektive könnte Ungleichheit das Wirtschaftswachstum bremsen oder sogar Wirtschaftskrisen auslösen.

Andererseits gibt es auch Wissenschaftlerinnen, welche die positiven Aspekte von Ungleichheit für die wirtschaftliche Entwicklung und individuelle Freiheit hervorheben – und vor den negativen Effekten einer zu großen Umverteilung warnen. Auch ihre Argumente werden wir uns im Auftakt anschauen. Dabei lernst du eine weitere Denkschule der Wirtschaftsforschung kennen: Die sogenannte „Österreichische Schule“.

Im Schwerpunkt 1: Was muss man wissen, um mitreden zu können? Grundbegriffe der Beschäftigung mit ökonomischer Ungleichheit

Wenn man sich an der wissenschaftlichen und politischen Debatte über die Ungleichheit beteiligen möchte, ist es hilfreich, wenn man sich mit ein paar grundlegenden Begriffen, Konzepten und Kennziffern auskennt. Diesen Grundbegriffen rund um ökonomische Ungleichheit widmen wir uns im ersten Schwerpunkt des Kapitels. Es geht hier um Fragen wie:

  • Welche Arten von Ungleichheit lassen sich ganz grundlegend unterscheiden? Welche Arten von Ungleichheit stehen in diesem Kapitel im Vordergrund?
  • Was unterscheidet wirtschaftliche Strom- und Bestandsgrößen, wie es Einkommen und Vermögen sind?
  • Wie entstehen Einkommen und welche Perspektiven der Einkommensverteilung lassen sich unterscheiden?
  • Was gehört alles zum Vermögen und welche Funktionen erfüllt es?
  • Wie lässt sich Ungleichheit mit Hilfe von Ungleichheitsmaßen messen und beschreiben?

Am Ende des Schwerpunkts wird es um die wichtige, aber gar nicht so leicht zu beantwortende Frage gehen: Wie hat sich die Einkommensungleichheit in den letzten Jahren entwickelt?

Im Schwerpunkt 2: Gerechtere Verteilung durch das Steuersystem?

Im zweiten Schwerpunkt des Kapitels steht schließlich der deutsche Staat im Vordergrund. Er hat verschiedene Möglichkeiten, Einfluss auf die Ungleichheit zu nehmen. Eine davon ist die Besteuerung, mit der wir uns hier genauer befassen möchten. Daher betrachten wir hier:

  • Welche Möglichkeiten hat der Staat allgemein, die Verteilung zu beeinflussen?
  • Warum gibt es Steuern und welche Steuerarten lassen sich unterscheiden?
  • Was ist mit progressiver Besteuerung von Einkommen gemeint? Wann ist sie in Deutschland eingeführt worden und wie funktioniert sie?
  • Klappt das mit der progressiven Besteuerung in Deutschland?

Am Ende des Schwerpunkts widmen wir uns schließlich der Frage, ob die seit dem Jahr 1997 ausgesetzte Vermögensteuer reaktiviert werden sollte, um die Vermögensungleichheit zu reduzieren.

Wie du vielleicht schon festgestellt hast, muss dieses Kapitel in vielerlei Hinsicht Einschränkungen vornehmen: So fokussieren wir uns auf die ökonomische Ungleichheit und sprechen andere, gleichermaßen bedeutsame Dimensionen der Ungleichheit (wie z. B. altersbedingte oder geschlechtsbedingte Ungleichheit) höchstens am Rande an. Zudem konzentrieren wir uns auf die Ungleichheit innerhalb eines Landes (insbesondere Deutschland), obgleich unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft die Ungleichheit zwischen den Nationen oder z. B. zwischen dem globalen Norden und globalen Süden ein eigenes Kapitel verdient hätten.

Der Text im Abschnitt „Um was geht es in Kapitel 5?“ von Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

H5P-Element „Kuchenstücke der Einkommens- und Vermögensverteilung“. Quellen- und Lizenzangaben zu den Abbildungen unter „Rights of use“ im H5P-Element und am Ende des Lernabschnitts. Der H5P-Inhaltstyp „Column“ steht unter einer MIT-Lizenz. Der H5P-Inhaltstyp „Drag and Drop“ steht unter einer MIT-Lizenz.

2024-04-12T15:08:51+00:00

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