Bearbeiteter Ausschnitt aus „.“ von markus119, CC BY 2.0, via flickr.com.

Zuvor hast du dich mit der Datenlage zur Entwicklung der Einkommensungleichheit in Deutschland befasst. Wie wird diese Datenlage von Wissenschaftlerinnen aus arbeitgebernahen und gewerkschaftsnahen Forschungsinstituten interpretiert? Öffnet sich die berühmt-berüchtigte „Einkommensschere“ immer weiter oder schließt sie sich?

POSITION 1: „Die Schere öffnet sich nicht weiter“ (Institut der deutschen Wirtschaft, 2022)

„Die Spreizung der Einkommen hat sich in Deutschland zwar auf lange Sicht vergrößert. Seit über einem Jahrzehnt hat sich der Trend aber nicht mehr fortgesetzt. […]

Die Wirtschaft sucht dringend nach fähigen Mitarbeitern und zahlt ihnen gute Löhne. Gleichzeitig stehen Geringqualifizierte im Konkurrenzkampf mit Arbeitern aus Niedriglohnländern, zunehmend auch mit Algorithmen, die immer mehr Aufgaben übernehmen. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass sich die Einkommensschere in Deutschland – wie in allen Industriestaaten – in den vergangenen Jahrzehnten geöffnet hat. So hat sich der Gini-Koeffizient der bedarfsgewichteten Nettohaushaltseinkommen zwischen 1991 bis 2019 von 0,247 auf 0,296 Punkte erhöht. Ein Großteil des Anstiegs ist Ende der 1990er Jahre und Anfang der 2000er Jahre zu beobachten. Seit 2005 ist der Gini-Koeffizient jedoch nahezu unverändert geblieben und schwankt um 0,29 Punkte. […]

Nahezu unveränderte Einkommensverteilung seit 2005

Im Gegensatz zu anderen Ländern konnte Deutschland die Einkommensschere somit zuletzt weitestgehend konstant halten. Die gute wirtschaftliche Entwicklung und der Abbau der Arbeitslosigkeit haben die Lebenssituation von Millionen Menschen verbessert. Zum einen hat Deutschland das Glück, Maschinen und andere Investitionsgüter zu produzieren, die vor allem in Schwellenländern stark nachgefragt werden. Zum anderen haben die Hartz-Reformen Mitte des vorigen Jahrzehnts den Arbeitsmarkt flexibilisiert und vielen Menschen den Einstieg ermöglicht. Am anderen Ende der Einkommensskala haben viele Wohlhabende in der Finanzkrise Verluste hinnehmen müssen. Unter dem Strich konnten die unteren Einkommensgruppen seit dem Jahr 2005 ebenso vom wachsenden Wohlstand profitieren wie die mittleren und oberen Schichten. Nach 2015 hat sich dieser positive Trend trotz Herausforderungen durch die Flüchtlingsmigration noch verstärkt.

Trotz insgesamt steigenden Wohlstands scheint sich die Mittelschicht aber weniger mit dem wirtschaftlichen Fortschritt zu beschäftigen, als vielmehr mit Abstiegsängsten. Dabei ist es eigentlich recht gut bestellt um diese Gruppe, zu der per IW-Definition alle Menschen mit einem Einkommen zwischen 80 und 150 Prozent des mittleren Einkommens gehören. Seit Anfang der 1990er Jahre ist die Mittelschicht relativ stabil geblieben, ihr Anteil variiert um die 50 Prozentmarke. Im selben Zeitraum ist der Anteil der Niedrigeinkommensbezieher (Armutsgefährdete) spürbar gestiegen: Betrug die Niedrigeinkommensquote (relative Armutsgefährdungsquote) laut Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) Anfang der 1990er Jahre noch 10,9 Prozent, so liegt sie mittlerweile bei fast 17 Prozent Prozent. Der Anstieg der Niedrigeinkommensquote ist sowohl der zunehmenden Migration geschuldet als auch dem gesellschaftlichen Trend zum Alleinleben und Alleinerziehen. Vor Ausbruch der Corona-Pandemie war der Anstieg der Niedrigeinkommensquote allerdings zum Halten gekommen und auch die Zahl der Mindestsicherungsempfänger war gesunken. Zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie und den aktuellen Preissteigerungen in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine lassen sich momentan noch keine sicheren Aussagen treffen. […]“

Bearbeiteter Ausschnitt aus „.“ von markus119, CC BY 2.0, via flickr.com.

POSITION 2: „Die Ungleichheit hat […] einen neuen Höchststand erreicht.“ (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut, 2022)

„Bereits auf den ersten Blick sind drei entscheidende Entwicklungen der Ungleichverteilung der Einkommen ersichtlich: 1. Die Einkommensungleichheit liegt im Jahr 2019 deutlich über dem Niveau von 2010; 2. Die Ungleichheit hat am aktuellen Rand einen neuen Höchststand erreicht; 3. Der Gini-Koeffizient entwickelt sich wellenförmig.

Die Entwicklungen im Einzelnen: In den ersten vier Jahren des Untersuchungszeitraums findet ein fast kontinuierlicher Anstieg der Ungleichheit statt: von 0,283 auf 0,293 im Jahr 2013. Zum Jahr 2018 geht der Koeffizient dann leicht auf knapp unter 0,29 zurück. Im Jahr 2019 ist schließlich mit einem Wert von 0,296 das bislang höchste Ausmaß an Ungleichheit erreicht. Auch vor 2010 lag der Gini-Koeffizient nie über diesem Wert; selbst in den Jahren der Massenarbeitslosigkeit Anfang der 2000er Jahre oder während der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 war er nie höher als jetzt […]. Wir können also festhalten, dass die Einkommen in Deutschland nie so ungleich verteilt waren wie im Jahr 2019. Ob der deutliche Anstieg zwischen 2018 und 2019 den Beginn einer neuen Phase steigender Einkommensungleichheit ankündigt, oder ob es sich hier nur um einen einmaligen Sprung handelt, lässt sich mit den aktuell verfügbaren SOEP-Daten aber nicht sagen.

Will man die Entwicklung der Einkommensungleichheit weiter aufschlüsseln, ist ein Blick auf den Verlauf der Armuts- und Reichtumsquoten hilfreich. Zunächst zu den Entwicklungen am oberen Ende der Verteilung […]. [Einkommensreichtum wird hier – analog zu Armut – anhand des Medianeinkommens bestimmt. Haushalten mit einem verfügbaren Einkommen, dass doppelt so hoch ist wie das Medianeinkommen, gelten als reich. Haushalte, deren verfügbares Einkommen mehr als dreimal so hoch ist wie das Medianeinkommen gelten als sehr reich.]

Im Jahr 2019 sind knapp 7,3 Prozent der Deutschen einkommensreich [Abb. 2]. Das sind etwas weniger als zu Beginn des Untersuchungszeitraums. Mit rund 8,3 Prozent liegt der Anteil der Reichen im Jahr 2012 am höchsten, seitdem ist er in der Tendenz leicht rückläufig. Die Subgruppe der sehr Reichen liegt über die untersuchten Jahre hinweg konstant bei etwas unter 2 Prozent. Das Ausmaß an Einkommensreichtum ist damit insgesamt recht stabil, mit einer zuletzt leicht rückläufigen Tendenz. Allerdings sind […] in den SOEP-Daten Topeinkommen untererfasst. Die tatsächlichen Entwicklungen dürften daher deutlich ausgeprägter sein, als die hier dargestellten Daten vermuten lassen. Der zeitgleiche Anstieg der Einkommensungleichheit, den der Gini-Koeffizient belegt, legt die Vermutung nahe, dass die Einkommensarmut in diesem Zeitraum gewachsen ist. Und in der Tat: Die Armutsquoten steigen über die untersuchten Jahre hinweg deutlich an […].

Sowohl der Anteil der Armen als auch der der sehr Armen erreicht im Jahr 2019 einen neuen Höchststand – selbst in den Jahren nach der Wiedervereinigung oder in der Wirtschaftskrise 2009 lagen die Armutsquoten niedriger als heute […]. In diesem Jahr sind fast 16,8 Prozent der Deutschen von Armut betroffen, mehr als 11 Prozent sind sehr arm. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums waren 14,3 Prozent der Bevölkerung arm und weniger als 8 Prozent sehr arm. Die Armutsquote ist damit in nicht mal zehn Jahren um 2,5 Prozentpunkte (oder 17,5 Prozent) gestiegen, bei großer Armut liegt die Zunahme bei über 3 Prozentpunkten und damit bei über 40 Prozent. Die Gruppe der sehr Armen ist mithin, absolut wie auch relativ betrachtet, noch stärker gewachsen als die Gesamtgruppe der Armen. Der Anstieg bei der Gesamtgruppe konzentriert sich auf die Jahre 2012–2015. Die Zahl der sehr Armen wächst bereits ab dem Jahr 2010. In beiden Gruppen ist die Zunahme nach 2015 etwas gebremst.

Zum letzten Jahr hin zeigt sich dann erneut jeweils ein deutlicher Anstieg. Auch hier gilt wieder wie schon beim Gini-Koeffizienten: Die Zunahme zwischen 2018 und 2019 kann sehr wohl der Beginn einer neuen Phase steigender Armut sein, kann aber auch eine einmalige Entwicklung darstellen. Erste Hinweise aus anderen Datenquellen deuten aber darauf hin, dass der Anstieg sich fortsetzt […]. Auch vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen in Deutschland scheint eine solche Annahme plausibel.“

Der erste Text im Lernabschnitt „Debatte: Wie steht es um die Ungleichheit der Einkommen?“ ist ein Auszug aus dem Text „Die Schere öffnet sich nicht weiter“ von arm-und-reich.de/Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V. freundlich zur Verfügung gestellt unter einer Creative Commons Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

Die Abbildung „Entwicklung der Einkommensungleichheit“ von arm-und-reich.de/Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V. wurde freundlich zur Verfügung gestellt unter einer Creative Commons Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

Die Abbildung „„Entwicklung der verfügbaren Einkommen nach Dezilen“ von arm-und-reich.de/Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V. wurde freundlich zur Verfügung gestellt unter einer Creative Commons Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

Der zweite Text im Lernabschnitt „Debatte: Wie steht es um die Ungleichheit der Einkommen?“ ist ein Auszug aus „WSI Report Nr. 79, November 2022 WSI Verteilungsbericht“ von Dorothee Spannagel, Aline Zucco/Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Die Abbildung „Einkommensreichtum in Deutschland, 2010–2019“ von Dorothee Spannagel, Aline Zucco/Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Die Abbildung „Einkommensarmut in Deutschland, 2010–2019“ von Dorothee Spannagel, Aline Zucco/Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.