Verursacht wirtschaftliche Ungleichheit Wirtschaftskrisen? Auf diese Frage geben verschiedene Perspektiven der Wirtschaftsforschung recht unterschiedliche Antworten. Der folgende Text schildert die Sichtweise von Neoklassik, Postkeynesianismus und Marxistischer Politischer Ökonomie – drei Denkschulen, die du bereits in anderen Kapiteln kennenlernen konntest.

#Ökonomie für Expertinnen #(Post)Keynesianismus #Marxistische Politische Ökonomie #Neoklassik

„Führt (sozioökonomische) Ungleichheit zu (ökonomischen) Krisen? […]

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mochte es über Jahrzehnte scheinen, als beträfen schwere ökonomische Krisen ausschließlich Niedrig- und Mitteleinkommensländer. Nachdem das – bis dahin stabilisierend wirkende – Bretton-Woods-System der festen Wechselkurse zusammengebrochen war, trafen die Währungskrisen der 1970er, 1980er und 1990er Jahre Länder in Lateinamerika und Asien. Diese führten zu Verwerfungen der nationalen Ökonomien, und in weiterer Folge zu Budgetkrisen und massiven sozioökonomischen Problemen. Dagegen waren die Savings and Loans Krise der 1980er in den USA, die Krise des Europäischen Währungssystems Anfang der 1990er sowie die Dotcom-Blase Anfang der 2000er in ihren Auswirkungen vergleichsweise harmlos. Die Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007/2008 aber nahm ihren Ausgang im US-amerikanischen Immobiliensektor und wurde vor allem in Europa zu einer Schuldenkrise (gemacht). Zudem trifft die COVID-19-Pandemie bisher Hocheinkommensländer ähnlich stark wie Niedrig- und Mitteleinkommensländer. Somit ist diese Illusion der Stabilität unseres modernen Wirtschaftssystems wohl endgültig zerstört.

Manche Theorierichtungen der Ökonomie wie Post-Keynesianismus oder Marxismus untersuchen sowohl die Ungleichheit als auch die Krisenhaftigkeit von Wirtschaften theoretisch und empirisch seit Jahrhunderten; allerdings waren diese Strömungen eher Randerscheinungen. Seit den Krisen der Hocheinkommensländer sind diese Untersuchungsgegenstände auch in den Fokus des Mainstreams der Ökonomie (hauptsächlich der Neoklassik) gerückt. […]

Neoklassik: Krisen als Ergebnis staatlicher Eingriffe

Es gibt unterschiedliche Ansätze zur theoretischen Konzeption von Krisen in der Ökonomie. Die Neoklassik, die dominante Schule ökonomischen Denkens, geht in ihrer reinen Form von selbststabilisierenden Märkten aus. Sich selbst überlassen tendieren Märkte dieser Theorie nach zum Gleichgewicht, und der Preis gleicht Angebot und Nachfrage aus. Destabilisierend können somit Eingriffe von außen wirken – insbesondere von staatlicher Seite –, aber […] nicht die Märkte selber. Im Falle der Finanzkrise von 2007/2008 ist diese Ansicht auf eine besonders harte Probe gestellt, da Finanzmärkte dem Idealtypus der ‚perfekten‘ Märkte mit vielen TeilnehmerInnen ohne Marktmacht besonders nahe kommen. So vertrat etwa John Cochrane, Ökonom an der Universität Chicago, die Ansicht, dass die Finanzkrise ausschließlich auf staatliche Interventionen in den Kreditmärkten zurückzuführen sei […]. Für die Neoklassik sind Verteilungsfragen ein Ergebnis des Marktprozesses, und können daher keinen Einfluss auf die Stabilität unseres Wirtschaftssystems – und somit auf seine Krisen – nehmen.

Die Vorstellung eines Gleichgewichts der Wirtschaft ist ein wichtiger Bestandteil der neoklassischen Perspektive. „Newton Balls (Shaved)“ von Anderson Mancini from Sao Paulo, Brazil, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons.

Allerdings unterschreiben inzwischen auch viele ÖkonomInnen neoklassischer Prägung keine rein exogene [d. h. von außerhalb des Wirtschaftssystems kommende] Krisenerklärung mehr. Insbesondere der ‚empirical turn‘ der Ökonomie[, also die zunehmende Beschäftigung mit ökonomischen Daten], hat hier Bewegung in die theoretischen Konzeptionen gebracht. Empirisch orientierte Ökonomen wie Thomas Piketty oder Raghuram Rajan entwickelten Erklärungen für Ungleichheit beziehungsweise Krisen, die ihrer Theorie nach innerhalb des neoklassischen Paradigmas angesiedelt sind […]. Die Ansichten zur Selbststabilisierung der Märkte treten […] [allerdings] nach Ereignissen wie der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007/2008 in der neoklassischen Theorie rasch wieder in den Vordergrund.

Marxistische Politische Ökonomie: Der Fall der Profitrate

Viele andere ökonomische Denkrichtungen vertreten dagegen endogene [d. h. innerhalb des Wirtschaftssystems ansetzende] […] Krisenerklärungen. Der marxistische Zugang […] [beschreibt] diese sehr vereinfacht folgendermaßen […]: Die dem Kapitalismus […] innewohnende Tendenz der Profitrate, immer weiter zu fallen, ausgelöst durch den Zwang zu halsabschneiderischem Wettbewerb zwischen Unternehmen (das heißt, Arbeit zu sparen), löst in regelmäßigen Abfolgen Krisen aus. Diese vernichten Kapital, wodurch die Profitabilität wiederhergestellt wird. Die Ungleichheit zwischen Kapital und Arbeit liegt somit der Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems in dieser Sichtweise zugrunde.

H5P-Element „Marxistische Ökonomik im Überblick“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of Use“ im H5P-Element.

Postkeynesianismus: Instabilität der Finanzmärkte …

Eine andere Krisenerklärung, die insbesondere moderne Entwicklungen auf den Finanzmärkten gut erfasst, entwickelte Hyman Minsky, ein Post-Keynesianischer Ökonom […]. Diese beschreibt, dass Unternehmen in Zeiten der Stabilität nicht nur durch Profitchancen dazu verleitet werden, sondern aufgrund des Wettbewerbs dazu gezwungen sind, ihre Leverage zu erhöhen. Hierbei wird zusätzliches Fremdkapital aufgenommen, um den Proft je eingesetztem Eigenkapital zu erhöhen. In Zeiten der Stabilität entwickeln sich somit alle Unternehmen von „Hedge“-Finanzierung, die sowohl Zinsen als auch Kreditrückzahlungen aus dem Cashflow bedienen kann, über „spekulative“ Finanzierung, deren Kreditrückzahlungen bereits auf einer erfolgreichen Umwälzung ihrer Kredite beruht, hin zu einer „Ponzi“-Finanzierung, die sowohl Zinsen als auch die Kreditrückzahlungen aus neuen Krediten bedient, und somit zum Beispiel auf steigende Vermögenspreise oder sich kontinuierlich verbessernde Kreditkonditionen angewiesen ist. Das führt in der langen Frist zu Zahlungsschwierigkeiten […]. Unternehmen und InvestorInnen, die bei der Jagd auf Renditen nicht mitmachen, geraten in der mittleren Frist unter starken Druck.

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Daher beschrieb [der Wirtschaftsforscher und Historiker Charles] Kindleberger […] die Geschichte der Finanzmärkte als eine Abfolge von spekulativen Blasen, bei denen die Psychologie der AktionärInnen eine große Rolle spielt. Ungleichheit spielt in dieser Krisenerklärung hauptsächlich eine indirekte Rolle, indem sie am oberen Ende der Einkommensverteilung die Verfügbarkeit von ‚Spielkapital‘ auf den Finanzmärkten erhöht.

… und struktureller Nachfragemangel

Der Post-Keynesianismus kennt noch eine andere endogene [= dem Wirtschaftssystem entstammende] Krisenursache: Den strukturellen Nachfragemangel. In dieser Theorie hängt die Stabilität des Wirtschaftswachstums (über dessen Volatilität [=Schwankungsanfälligkeit] Krisen definiert werden) hauptsächlich von den Absatzmöglichkeiten der Unternehmen ab. Wenn die innerhalb eines Jahres produzierten Güter und Dienstleistungen nicht verkauft werden können, führt das zu einer negativen Einschätzung des Wirtschaftsumfeldes, und das wiederum zu Investitionszurückhaltung. Da aber aufgrund der […] verschiedenen Sparquoten der unterschiedlichen Einkommensgruppen – Personen am oberen Ende der Verteilung sparen mehr als jene am unteren Ende, die praktisch ihr gesamtes Einkommen sofort wieder ausgeben (und sogar oft mehr als das, und somit negative Sparquoten haben [= sich verschulden]) – strukturell weniger Nachfrage existiert als Produktion stattfindet, postuliert der Post-Keynesianismus einen strukturellen Nachfragemangel. Dieser führt auch zu systemischer Arbeitslosigkeit: in ‚normalen‘ Zeiten gibt es im Post-Keynesianismus (im Gegensatz zur Neoklassik) Arbeitslose – die damit auch unverschuldet arbeitslos sind, weil es aufgrund des Nachfragemangels strukturell zu wenige Jobs gibt. In dieser Sichtweise ist Ungleichheit als Krisenursache zentral angelegt. Einkommensungleichheit verschärft den strukturellen Nachfragemangel, da somit die Einkommen am oberen Ende der Verteilung noch steigen und diese aufgrund ihrer höheren Sparquoten die gesamtgesellschaftliche Nachfrage reduzieren.

Solche strukturellen oder systemischen Krisenerklärungen haben seit der Jahrtausendwende an Relevanz und Aufmerksamkeit gewonnen. Nach der Dotcom-Blase zeigten auch die Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007, sowie (mit Einschränkungen) auch die derzeitige Pandemie auf, dass in der Ökonomie Krisen nicht als Anomalien betrachtet werden können. Der Druck, Krisen konzeptionell in ökonomische Theorien zu integrieren, steigt mit jeder weiteren Krise. Dafür spielt Ungleichheit – insbesondere jene zwischen Kapital und Arbeit in der marxistischen und post-Keynesianischen Theorie – eine zentrale Rolle. Vermögensungleichheit aber liegt den Eigentumsverhältnissen zugrunde, und definiert so die Einkünfte aus Kapital und Arbeit.”

Der Text im Lernabschnitt ist eine gekürzte Fassung von: „Ist Ungleichheit ein Treiber von Krisen und sind Krisen ein Treiber von Ungleichheit?“ von Miriam Rehm in Frankfurter Forum: Diskurse, 24/2021. Freundlich zur Verfügung gestellt unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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