Wichtige Begriffe haben wir jetzt geklärt. Zeit, endlich die Frage zu stellen: Wie groß ist sie denn jetzt in Deutschland, die ökonomische Ungleichheit? Und wie hat sie sich in den letzten Jahren entwickelt? Mit den vorhandenen Daten sollte sich das doch gut beantworten lassen, oder? Der folgende Lernabschnitt zeigt, dass es leider nicht so einfach ist.

Ob die ökonomische Ungleichheit in Deutschland zu hoch ist und ob sie in der Vergangenheit zu- oder abgenommen hat, ist in der politischen und wissenschaftlichen Debatte immer wieder ein kontroverses Diskussionsthema. Bisweilen wundert man sich, wie über ein und dasselbe Land so unterschiedliche Aussagen kursieren können.

Ein Beispiel dazu aus dem Jahr 2017: Damals urteilte die von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektro-Industrie finanzierte Agentur „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ in einer Broschüre mit dem Titel „11 Fakten zur Ungleichheit“:

„Die Einkommensungleichheit in Deutschland ist relativ niedrig.“

Im gleichen Jahr schrieb hingegen der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) im DGB Verteilungsbericht 2017:

„Die Verteilung der Einkommen ist in Deutschland sehr ungleich.“

Dass die Beurteilung der Ungleichheit unterschiedlich ausfallen kann, wenn man z. B. die Vermögensungleichheit mit der Einkommensungleichheit vergleicht, dürfte einleuchten. Und auch die Betrachtung eines ganz anderen Zeitraumes kann natürlich unterschiedliche Bewertungen erzeugen. Wohlgemerkt äußern sich beide Texte aber zur personellen Einkommensverteilung und sind zeitlich nah beieinander. Und trotzdem weichen die Aussagen erheblich voneinander ab. Womit hängt das zusammen?

Konzepte, Ebenen, Datengrundlagen und Maße

Bleiben wir einmal beim Thema der personellen Einkommensungleichheit (einige, aber nicht alle der folgenden Ausführungen lassen sich auch auf das Thema Vermögensverteilung beziehen).  Möchte man über darüber eine Aussage treffen, muss man sich entscheiden

  1. welches Einkommenskonzept man zugrunde legt,
  2. welche Ebene man betrachtet,
  3. welche Daten man heranzieht und
  4. welches Ungleichheitsmaß man verwendet.

(1) Konzepte: Markt-, Brutto- oder Nettoeinkommen?

Bei den Einkommenskonzepten haben wir oben schon gesehen, dass Einkommen nicht gleich Einkommen ist: So entstehen die Markteinkommen als Ergebnis der sogenannten Primärverteilung, bevor der Staat die Verteilungsergebnisse durch Steuern und Transfers beeinflusst (wobei natürlich auch die Markteinkommen schon durch staatliches Handeln beeinflusst sind).

Bezieht man dann die staatlichen Sozialtransfers (z. B. Kindergeld, gesetzliche Renten) ein, lässt die Abzüge durch Steuern und Sozialabgaben aber zunächst außen vor, erhält man das Bruttoeinkommen. Hiervon müssen dann die Steuern und Sozialabgaben abgezogen werden, um das Nettoeinkommen, also das Ergebnis der Sekundärverteilung, zu ermitteln.

Die personelle Einkommensungleichheit fällt dementsprechend anders aus, wenn man sich Markteinkommen oder Nettoeinkommen anschaut: Die Ungleichheit der Markteinkommen ist höher als die Ungleichheit bei den Nettoeinkommen.

H5P-Element „Einkommenskonzepte“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of Use“ im H5P-Element.

(2) Ebenen: Personen-, Haushalts- oder Äquivalenzeinkommen?

Bei den Ebenen der personellen Einkommensverteilung geht es darum, ob wir die Ungleichheit zwischen Personen betrachten (Personenebene) oder zwischen Haushalten (Haushaltsebene). Bei der Haushaltsebene werden die Einkommen aller Haushaltsmitglieder zusammengerechnet. Dies ist sinnvoll, schließlich bilden Haushalte eine Einheit, die oft gemeinsam wirtschaftet und darüber entscheidet, wie das Einkommen verwendet werden soll.

Betrachtet man die Haushaltsebene, stößt man allerdings auf das Problem, dass sich Haushalte unterschiedlicher Größe schlecht miteinander vergleichen lassen. Deshalb hat man das Konzept der Äquivalenzeinkommen entwickelt.

Ein Beispiel dazu: Stell Dir vor, zwei Arbeiterinnen A und B haben das gleiche Nettoeinkommen von 1.840 Euro, aber während A in einem Singlehaushalt lebt, muss das Einkommen von B für sich, ihre Partnerin und ihre zwei Kinder (11 Jahre, 15 Jahre) reichen.

Naheliegend wäre, dass man das Haushaltseinkommen einfach durch die Anzahl der Haushaltsmitglieder teilt, um eine Vergleichbarkeit zu erzielen. Damit würde auf jedes Haushaltsmitglied im Haushalt von A 1.840 Euro entfallen (\(frac{1840 €}{1}=1.840 €\)), während jedes Haushaltsmitglied im Haushalt B nur 460 Euro zur Verfügung hätte (\(frac{1840 €}{4}=460 €\)). Die Mitglieder in Haushalt B wären also ökonomisch erheblich schlechter gestellt als das Mitglied in Haushalt A.

Diese Rechnung übersieht, dass größere Haushalte in mancher Hinsicht Kostenersparnisse haben. So müssen zum Beispiel beide Haushalte eine Wohnung mieten, aber ein Vier-Personen-Haushalt benötigt nicht unbedingt eine viermal so große Wohnung mit vier Badezimmern und vier Küchen. Auch die Heiz- oder Stromkosten vervierfachen sich nicht. Zudem haben zumindest kleine Kinder einen geringeren Bedarf bei manchen Gütern (z. B. Lebensmitteln).

Um diese Kostenersparnisse zu berücksichtigen, werden die Haushaltseinkommen in Äquivalenzeinkommen umgerechnet. Dazu dient eine Gewichtungsskala (z. B. die der OECD). Das bedeutet, dass nicht jede Person in einem Mehrpersonen-Haushalt als „volle Person“ gezählt wird. Nur die erste Person wird mit dem Gewicht 1 gezählt, alle weiteren, die älter als 14 sind werden mit 0,5 gewichtet und Kinder unter 14 sogar nur mit 0,3.

Im Fall oben würde das Nettoeinkommen von 1.840 € in Haushalt B also nicht einfach durch 4 geteilt, sondern durch 1 (Arbeiterin) + 0,5 (ihre Partnerin) + 0,5 (Kind, 15 Jahre alt) + 0,3 (Kind, 11 Jahre alt). Im Ergebnis entfällt auf die Mitglieder in Haushalt B ein Äquivalenzeinkommen von 800 Euro (\(frac{1840 €}{2.3}=800 €\)) Das ist natürlich immer noch niedriger als die 1.840 Euro Äquivalenzeinkommen in Haushalt A (hier bleibt es bei \(frac{1840 €}{1}= 1.840 €\)), aber mehr als die 460 Euro, die wir zunächst ermittelt haben.

Es dürfte nicht verwundern, dass die Ungleichheit größer ist, wenn man die Personenebene betrachtet, weil die Ungleichheiten zwischen den Haushaltsmitgliedern natürlich verschwinden, sobald man die Haushaltsebene in den Blick nimmt. In unserem Beispiel oben würde eine Betrachtung der Personenebene beispielsweise folgendermaßen aussehen:

Arbeiterin A Arbeiterin B Partnerin von Arbeiterin A Kind von Arbeiterin A Kind von Arbeiterin A
1.840 € 1.840 € 0 € 0 € 0 €

Die Betrachtung der Haushalte sähe hingegen so aus:

Haushalt A Haushalt B
1.840 € 1.840 €

Und schaut man auf die Äquivalenzeinkommen, würde das folgende Bild entstehen:

Arbeiterin A Arbeiterin B Partnerin von Arbeiterin A Kind von Arbeiterin A Kind von Arbeiterin A
1.840 €  800 € 800 € 800 € 800 €

(3) Datengrundlage: Verwaltungsdaten oder Umfragedaten?

Unterschiedliche Datengrundlagen sind ein weiterer Aspekt, der zu abweichenden Urteilen über die Einkommensungleichheit führen kann. Ganz grundlegend kann man zwischen administrativen Daten und Erhebungsdaten unterscheiden.

Administrative Daten entstehen im Zuge staatlichen Verwaltungshandelns, z. B., wenn der Staat Steuern erhebt. Diese Daten sind zumeist von hoher Genauigkeit, können aber nicht alle Fragen beantworten, die Ungleichheitsforscherinnen haben. Daher muss oft zusätzlich auf Erhebungsdaten zurückgegriffen werden. Diese Daten entstehen im Rahmen von Umfragen, die versuchen, ein repräsentatives Abbild der Bevölkerung zu erreichen. Bei diesen Umfragen werden auch Fragen zu Einkommen und Vermögen gestellt.

Wichtige Umfragen in Deutschland sind z. B. der Mikrozensus der statistischen Ämter (eine jährliche Befragung von rund einem Prozent der deutschen Bevölkerung), die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes, die alle fünf Jahre durchgeführt wird sowie das Sozio-Oekonomische Panel (SOEP), eine repräsentative Umfrage, an der Haushalte über einen längeren Zeitraum immer wieder teilnehmen (Wiederholungsbefragung) und die am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) angesiedelt ist.

Obwohl diese Umfragen von hochqualifizierten Forscherinnen akribisch vorbereitet und durchgeführt werden, haben die Ergebnisse gewisse Schwächen: Zum einen sind die Angaben in den Befragungen meist freiwillig und können von den Forscherinnen nicht überprüft werden. Gerade an den sogenannten “Verteilungsrändern” (also bei den sehr armen und sehr reichen Personen) werden aber nicht so gerne Angaben über die Höhe von Einkommen und Vermögen gemacht – sei es aus Scham oder “weil man Geld halt hat, aber nicht darüber spricht”.

Hinzu kommt, dass die Umfragen versuchen, ein repräsentatives Bild der Bevölkerung zu liefern, aber diese Repräsentativität schwer zu erreichen ist, wenn die Einkommen stark auf eine kleine Anzahl an Haushalten konzentriert sind. Dann ist es eher unwahrscheinlich, dass ein solcher Haushalt in der Stichprobe auftaucht – aber das Fehlen seines Einkommens verzerrt das Bild der Ungleichheit erheblich.

Insgesamt führt dies dazu, dass die Ungleichheit, die mittels Umfragen ermittelt wird, in der Regel die tatsächliche Ungleichheit unterschätzen dürfte. Diesem Problem versuchen Forscherinnen z. B. durch Zusatzstichproben zu begegnen, welche die reicheren Haushalte stärker in den Blick nehmen.

(4) Welche Ungleicheitsmaße gibt es?

Hat man nun entschieden, welches Einkommenskonzept man zugrunde legt, welche Ebene man betrachtet und woher die Daten kommen sollen, bleibt schließlich noch die Frage zu klären, welche Ungleichheitsmaße zur Beschreibung und Analyse verwendet werden Diesem Thema widmet sich das folgende Video.

Schau dir das Video an und versuche, die zwischendrin gestellten Quizfragen richtig zu beantworten. Diese beziehen sich teilweise auch auf die Inhalte des Textes in diesem Lernabschnitt. Achtung: Diese Fragen haben es in sich! Du musst das Video sehr aufmerksam anschauen und dir am besten auch ein paar Notizen machen.

Wenn Du alle Quizze absolviert hast, bist du ein Experte in Ungleichheitsmaßen und kannst Aussagen in der Ungleichheitsdebatte viel besser einordnen.

H5P-Element „Interactive Video: Ungleichheitsmaße“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Vergleiche zwischen Zeiten und Ländern

Du siehst: Ungleichheit zu messen, zu beschrieben und zu untersuchen ist alles andere als einfach. Forscherinnen müssen sehr viele Entscheidungen treffen, die einen Einfluss auf die Ergebnisse haben. Je nachdem, welche Einkommenskonzepte, Ebenen, Daten und Kennziffern herangezogen wurden, kann die Ungleichheit geringer oder niedriger erscheinen.

Bei der Betrachtung der Ungleichheit über einen Zeitraum hinweg (und nur vor einem solchen Hintergrund ist die Frage nach Zunahme oder Rückgang der Ungleichheit ja überhaupt sinnvoll) tritt außerdem der Aspekt hinzu, welchen Zeitraum man für eine Betrachtung heranzieht. Auch diese Entscheidung kann einen erheblichen Einfluss darauf haben, welches Urteil man zur Entwicklung der Ungleichheit fällt.

Schließlich kommt noch hinzu, wie man mit internationalen Vergleichen umgeht: Es liegt nahe, die Werte der verschiedenen Kennziffern zur Ungleichheit mit den Werten in anderen Ländern zu vergleichen. So lag beispielsweise der Gini-Koeffizient der Brutto-Personeneinkommen im Jahr 2021 in Deutschland bei 0,48, während er in den USA bei 0,58 lag und in Schweden bei 0,41. Kann man aus diesem Vergleich schließen, dass Deutschland eine „mittelhohe“ Einkommensungleichheit hat? Oder kann die Einkommensungleichheit in Deutschland trotzdem hoch sein, auch wenn andere Länder eine noch höhere Ungleichheit aufweisen? Und welche Länder sollte man in einen solchen Vergleich eigentlich einbeziehen? All dies sind keine einfachen Fragen.

Fazit: Hat jeder seine eigene Ungleichheitswahrheit?

Wenn du also demnächst mal wieder Sätze liest wie „Die Einkommensungleichheit in Deutschland ist relativ niedrig“ oder „Die Verteilung der Einkommen ist in Deutschland sehr ungleich“ solltest du genau hinschauen, auf welcher Basis diese Urteile getroffen werden.

All das heißt nicht, dass jede ihre eigene „Ungleichheitswahrheit“ haben kann. Ob die Ungleichheit hoch ist oder nicht, ob sie gestiegen ist oder nicht, sind empirische Frage, die mit Blick auf die Daten durchaus beantwortet werden kann. Dabei sollte man allerdings sehr sorgfältig vorgehen und sich genau anschauen, welches Beweismaterial für eine These angeführt wird. Denn manche Konzepte, Ebenen, Datenquellen und Kennziffern eigenen sich eher dazu, Ungleichheit zu relativieren, während andere sie eher unterstreichen, wie Miriam Rehm im folgenden Video ausführt:

Video „Ist die Ungleichheit gestiegen?“ von Miriam Rehm/Institut für Sozioökonomie, CC BY 3.0. Das Video wird von youtube.com eingebettet.

Der Text im Lernabschnitt „Ungleichheitsmaße: Verteilung messen, beschreiben und beurteilen“ von Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

H5P-Element „Einkommenskonzepte“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Drag and Drop“ steht unter einer MIT-Lizenz.

H5P-Element „Interactive Video: Ungleichheitsmaße“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Interactive Video“ steht unter einer MIT-Lizenz. Das Video „Wie wird Ungleichheit gemessen?“ von Institut für Sozioökonomie ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Lizenz

Das Video „Ist die Ungleichheit gestiegen oder nicht?“ von Miriam Rehm/Institut für Sozioökonomie ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Lizenz.