Bevor wir uns im Weiteren genauer mit der ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen beschäftigen, sollten wir uns eine für die Wirtschaftsforschung wichtige Unterscheidung anschauen: Die zwischen Strömen und Beständen. Hier hilft uns das Bild einer Badewanne weiter. Aber dieses Bild hat auch seine Grenzen.

#VGR

Der berühmte polnische Wirtschaftsforscher Michal Kalecki hat einmal gesagt: „Ich habe herausgefunden, was die Volkswirtschaftslehre ist: Es ist die Wissenschaft der Verwechslung von Strömen und Beständen.“ Damit spielte er darauf an, dass in der Wirtschaftsforschung eine ganze Reihe von Irrtümern entstehen können, wenn man die Unterscheidung zwischen Stromgrößen und Bestandsgrößen nicht hinreichend beachtet. Doch was ist mit diesen Begriffen eigentlich gemeint?

Stromgrößen: Wieviel fließt hinein und hinaus?

Um das zu verstehen, eignet sich gut das Bild einer Badewanne. Stell dir vor, aus einem Wasserhahn strömt Wasser in die Wanne hinein. Der Wasserzufluss lässt sich mengenmäßig über einen bestimmten Zeitraum hinweg erfassen, z. B. als Angabe „15 Liter pro Minuten“. Immer, wenn sich eine Angabe auf einen bestimmten Zeitraum bezieht, handelt es sich um eine Stromgröße.

Aus einer wirtschaftlichen Perspektive ist z. B. das Einkommen der Haushalte eine wichtige Stromgröße. Es kann als Monatseinkommen, Jahreseinkommen oder auch als Stundenlohn angegeben werden. Immer geht es hier um eine monetäre Größe, die auf einen bestimmten Zeitraum bezogen ist. In unserem Badewannen-Bild ist das Einkommen das Wasser, dass durch den Wasserhahn in die Wanne fließt.

Auch das BIP, dass du oben schon gut kennengelernt hast, ist eine Stromgröße: Es gibt an, was in einer Volkswirtschaft innerhalb eines bestimmten Zeitraums (üblicherweise ein Jahr) produziert, verteilt und nachgefragt wird. Dementsprechend sind auch Ausgaben eine Stromgröße, z. B. die Ausgaben, die in den Haushalten innerhalb eines Jahres zu Konsumzwecken anfallen (das „C“ in der nachfrageseitigen Betrachtung des BIP). Im Bild unserer Badewanne sind die Ausgaben das Wasser, was durch den Abfluss unten herausfließt.

Bestandsgrößen: Wieviel Wasser hat sich in der Wanne gesammelt?

Stell dir nochmal die Badewanne vor. Oben läuft Wasser ein. Unten gibt es einen Abfluss, der mit einem Stopfen verschlossen ist. Allerdings passt der Stopfen nicht genau. Deshalb fließt immer ein bisschen Wasser aus der Wanne ab. Weil das Wasser unten langsamer abfließt, als oben neues Wasser hinzukommt, sammelt sich mehr und mehr Wasser in der Wanne. Der zu einem bestimmten Zeitpunkt ablesbare Wasserstand – z. B. 80 Liter um 16:40 Uhr– wäre in unserem Bild eine Bestandsgröße.

Charakteristisch für eine Bestandsgröße ist, dass man ihre Höhe zu einem bestimmten Zeitpunkt angibt. Eine typische Bestandsgröße, die uns im Folgenden interessiert, ist das Vermögen. Es kann u. a. dadurch zunehmen, dass während eines bestimmten Zeitraums die Einkommen (also der Wasserzufluss) die Ausgaben (also den Wasserabfluss) übersteigen. Die Differenz zwischen beidem wäre die Stromgröße “Ersparnis”, die die Bestandsgröße “Vermögen” anwachsen lässt (s. u.). Eine andere ökonomisch wichtige Bestandsgröße ist die Arbeitslosenquote: Wir können beispielsweise angeben, wie hoch die Anzahl der Arbeitslosen pro Erwerbspersonen am heutigen Tag ist.

H5P-Element „Badewanne, Ströme und Bestände“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Wie hängen Zufluss, Abfluss und Wasserstand zusammen?

Oben hat sich schon angedeutet, dass Ströme und Bestände nicht unabhängig voneinander sind. Vielleicht ist es daher auch so leicht, sie zu verwechseln. Bestände können sich zum Beispiel durch Ströme verändern: Genauso, wie der Wasserstand in der Badewanne zunimmt, wenn der Wasserzufluss innerhalb einer Periode (z. B. eine Stunde) den Wasserabfluss in derselben Periode übersteigt, steigt das Vermögen, wenn das Einkommen in einer Periode (z. B. ein Jahr) größer ist als die Ausgaben eines Haushaltes während desselben Zeitraums.

Ein anderes Beispiel wäre, wenn die innerhalb eines Jahres betrachteten Zugänge in Arbeitslosigkeit niedriger wären als die Abgänge aus Arbeitslosigkeit. Dann wäre die Bestandsgröße „Arbeitslosenquote“ am Ende des Jahres gesunken.

Bestände können aber auch Ströme erzeugen – und hier geraten wir auch schon an die Grenzen unseres Badewannenbildes: Denn anders als in der Badewanne, wo die Höhe des Wasserstandes keinen Einfluss darauf hat, wieviel Wasser aus dem Hahn kommt, sind Vermögen in der Lage, zusätzliches Einkommen hervorzubringen. Wer beispielsweise ein Mietshaus besitz (was eine Bestandteil der Bestandsgröße „Vermögen“ darstellt) und die Wohnungen des Hauses vermietet, kann monatliche Mieteinnahme verzeichnen (eine Stromgröße). Je höher also gewissermaßen der Wasserstand, umso mehr Wasser läuft in die Wanne ein.

Eine weitere Grenze des Badewannenbildes ist, dass nicht klar wird, ob hier die mikroökonomische oder die makroökonomische Ebene gemeint ist. Makroökonomisch können die Zuflüsse in die Badewanne ja umso größer sein können, je größer die Abflüsse sind, weil die Ausgaben der einen immer die Einnahmen der anderen sind. Das Bild erzeugt aber leicht den Eindruck, dass eine Volkswirtschaft ihr Vermögen erhöhen kann, indem sie weniger konsumiert. Das wäre der neoklassische Fall, aber im keynesianischen Fall würde die Badewanne umso leerer, je mehr die Abflüsse eingeschränkt werden. Dies wäre das keynesianische Sparparadox, das du schon aus Kapitel 2 kennst. Auch hier hängen also Abflüsse und Zuflüsse miteinander zusammen, was in einer normalen Badewanne üblicherweise nicht der Fall ist.

Negatives Wasser? Eine weitere Grenze des Badewannenbildes

Eine weitere Schwäche des Badewannenbildes ist es, dass man dort Schulden nicht gut darstellen kann. Oder hast du schon eine Badewanne mit einem negativen Wasserstand gesehen? Es kann aber durchaus vorkommen, dass Haushalte dauerhaft oder zeitweise höhere Schulden als Vermögen zu haben. Man sagt dann, dass sie ein negatives Nettovermögen [= Vermögen abzüglich Schulden] haben.

Überlege: Fallen dir weitere Grenzen des Badewannenbildes ein? Stell Dir z. B. vor, der Kurs einer Aktie steigt stark an, von der du einige Stück besitzt. Welchen Effekt hätte der Kursanstieg im Badewannenbild? Und wie passend ist es eigentlich, die Konsumausgaben mit dem Wasserabfluss gleichzusetzen? Fällt dir ein Grund ein, warum das möglicherweise unpassend sein könnte?

Warum füllt sich meine Wanne nicht?

Schließlich müssen wir an dieser Stelle einem Fehleindruck vorbeugen, der sich durch unsere Schilderung oben ergeben könnte. Dort erschien es so: Wer Vermögen anhäufen will, der muss einfach nur den Hahn aufdrehen (d. h. das Einkommen erhöhen, indem man z. B. mehr arbeitet) und den Abfluss dichtmachen, so gut es geht (d. h. beispielsweise die Konsumausgaben reduzieren). Viele Menschen machen es so: Sie drehen auf, soweit es geht und versuchen, das Wasser, das einfließt, am Herauslaufen zu hindern. Und trotzdem sammelt sich nur sehr langsam Wasser in ihrer Wanne. Gleichzeitig gibt es andere, die in randvollen Wannen sitzen. Wie kann das sein?

Zum einen ist der Zufluss sehr unterschiedlich: Bei manchen Menschen strömt das Wasser in großen Mengen in die Wanne. Bei anderen kommt nur ein Rinnsal aus dem Hahn. Das liegt daran, dass die Höhe des Einkommens sehr unterschiedlich ist. Auf diese ungleiche Verteilung der Einkommen werden wir unten eingehen.

Zum anderen spielen für große Vermögen beispielsweise auch Erbschaften eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das kann man sich so vorstellen, als ob plötzlich die Eltern mit einem Wasserkanister vorbeikommen und ihn in die Badewanne gießen. Plötzlich wächst der Wasserstand an – deutlich stärker, als dies durch den Wasserhahn jemals gegangen werden. Viele große Vermögen werden so generationsübergreifend weitergegeben. Wer nicht auf einen solchen Wasserkanister hoffen kann, muss sich oft mit erheblich geringeren Wasserständen zufriedengeben.

H5P-Element „Stromgröße oder Bestandsgröße?“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Der Text im Lernabschnitt „Ströme und Bestände, oder: Über Wasserhähne und Badewannen“ von Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

H5P-Element „Badewanne, Ströme und Bestände“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Drag and Drop“ steht unter einer MIT-Lizenz.

H5P-Element „Stromgröße oder Bestandsgröße?“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Drag and Drop“ steht unter einer MIT-Lizenz.