Kapitel 1: Was will Wirtschaftspolitik? Kontroversen um wirtschaftspolitische Ziele

Bearbeiteter Ausschnitt aus „„Compass Study“ von Calsidyrose, CC BY 2.0, via flickr.com.

Die Beschäftigung mit Wirtschaftspolitik beginnt mit einem Blick auf verschiedene wirtschaftspolitische Ziele und die Kontroversen, die darum geführt werden. Wir lernen eine Sprache kennen, in der Kontroversen um die Wirtschaft ausgetragen werden, und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als wichtigen Begriff in dieser Sprache. Wir schauen uns auch an, welche Kritik am BIP geäußert wird.

Deine Reise in die Welt der Wirtschaftspolitik soll mit einem Gedankenexperiment beginnen: Stelle dir ein Schiff vor, das mit einem kaputten Kompass auf dem Meer unterwegs ist. Dieser Kompass ändert wahllos die Angabe der Himmelsrichtungen. Das Schiff ist orientierungslos. Mal würde es ein paar Meilen in eine Richtung fahren, dann plötzlich umdrehen und in eine andere Richtung steuern. Es würde wahrscheinlich nur mit viel Glück einen Hafen erreichen. Bis dahin bliebe es für sehr lange Zeit auf offener See, so dass die Vorräte an Bord knapp würden. Die Besatzung an Bord eines solchen ziellosen Schiffes nicht besonders glücklich wäre.

Welche Ziele verfolgt die Wirtschaftspolitik?

Ähnlich ist es in der Wirtschaftspolitik: Orientierungslosigkeit würde nicht dazu führen, dass die Politik die Interessen aller Bürgerinnen fördert. Ohne Zielkompass wären die meisten Bürgerinnen nicht sehr zufrieden mit der Wirtschaftspolitik. Doch welche Ziele sind den Bürgerinnen eigentlich wichtig? Wo gibt es unterschiedliche Meinungen? Welche Ziele sind gesetzlich vorgeschrieben? Wie lässt sich feststellen, ob die vorgegebenen Ziele erreicht wurden? Diese Fragen schauen wir uns im Auftakt zu diesem Kapitel an.

„Die politische Aufgabe der Menschheit besteht darin, drei Dinge miteinander zu verbinden: Wirtschaftliche Effizienz, soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit.“

John Maynard Keynes, 1926

„Einer der großen Fehler ist es, Politiken und Programme nach ihren Absichten und nicht nach ihren Ergebnissen zu beurteilen.“

Milton Friedman, 1975

Eine Sprache für die Wirtschaft

Wenn du dir die Frage stellst, wie gemessen werden kann, ob die vorgegebenen Ziele erreicht werden, stößt du immer wieder auf eine zentrale Kennzahl der Wirtschaftsforschung: Das Brutto-Inlands-Produkt (kurz: BIP, eigentlich: Bruttoinlandsprodukt). Die jährliche Erhöhung des BIP – das Wirtschaftswachstum – ist bislang eines der bedeutsamsten wirtschaftspolitischen Ziele. Für andere Kennzahlen der wirtschaftlichen Entwicklung ist das BIP sehr wichtig. So werden zum Beispiel die Staatsschulden in Prozent des BIP betrachtet, um zu prüfen, ob eine zu hohe Verschuldung vorliegt. Oder man schaut, wie sich Exporte und Importe im Bezug zum BIP entwickelt haben, um zu prüfen, ob außenwirtschaftliche Ungleichgewichte vorliegen.

Das BIP wird mithilfe der Volkswirtschaftlichen Gesamt-Rechnung (kurz: VGR, eigentlich: volkswirtschaftliche Gesamtrechnung) bestimmt. Die VGR kann man als so etwas wie eine gemeinsame Sprache vieler Wirtschaftsforscherinnen verstehen. Anhängerinnen unterschiedlicher wissenschaftlicher Perspektiven auf die Wirtschaft verwenden sie. Sich darin auszukennen ist sehr hilfreich, um sich in wirtschaftspolitische Debatten einmischen zu können. Deshalb widmen wir uns der VGR ausführlich im ersten Schwerpunkt dieses Kapitels. Damit bist du gut für die weitere Reise in die Welt der Wirtschaftspolitik gerüstet.

„Wortwolke zu Kapitel 1“ von Julian Becker, CC BY 4.0, erstellt mit Voyant Tools.org.

Zweifel am BIP: Brauchen wir neue Ziele?

Aber auch das BIP ist umstritten: Immer mehr Wirtschaftsforscherinnen weisen darauf hin, dass das BIP viele Probleme macht. Es wird auch kritisch hinterfragt, ob weiteres Wirtschaftswachstum vor dem Hintergrund der Klimakrise weiterhin ein sinnvolles Ziel der Wirtschaftspolitik sein kann. Hierauf gehen wir in einem Perspektivwechsel ein, in dem Zweifel am BIP diskutiert und alternative Kennziffern der Wohlstandsmessung vorgestellt werden. Diese Zweifel am BIP haben auch dazu beigetragen, dass die Frage diskutiert wird, wie zeitgemäß die gesetzlich verankerten wirtschaftspolitischen Ziele des „magischen Vierecks“ eigentlich noch sind. Brauchen wir vielleicht ein „neues magisches Viereck“?

Ausblick: Wie geht es weiter?

Sicher bleiben nach diesem Kapitel viele Fragen offen: Wie genau misst man eigentlich Arbeitslosigkeit und was kann man tun, um sie zu verringern? Was ist mit dem Ziel der „Stetigkeit des Wachstums“ gemeint und was meint der Begriff „Konjunktur“? Was soll ein „außenwirtschaftliches Ungleichgewicht“ eigentlich sein? Wieso sind Inflation und Deflation ein Problem? Wie können wir Ungleichheit messen und verringern? Welche Wirtschaftspolitik kann die Klimakrise entschärfen? Diese Fragen werden in einem der weiteren Kapitel aufgegriffen. Welche Frage wo diskutiert wird, erklären wir in einem kurzen Ausblick am Ende des ersten Kapitels.

Der Text „Kapitel 1: Was will Wirtschaftspolitik? Kontroversen um wirtschaftspolitische Ziele“ von Julian Becker, Till van Treeck ist lizenziert unter CC BY 4.0

Die Abbildung „Wortwolke zu Kapitel 1“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0 Erstellt mit Voyant Tools.org.

2024-04-05T15:47:26+00:00

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