Nachdem du gesehen hast, welche Sichtweisen es auf Steuern gibt und ein paar wichtige Steuerarten kennengelernt hast, wenden wir uns jetzt der progressiv angelegten Einkommensteuer zu. Was meint „progressiv“ hier eigentlich? Wann ist die progressive Einkommensbesteuerung entstanden? Welche steuerpolitischen Diskussionen gab es in der jüngeren Vergangenheit?

#„In the long run …“

Eine Einkommensteuer nennt man progressiv, wenn der prozentuale Anteil der zu zahlenden Steuern am Einkommen mit der Höhe des Einkommens ansteigt. Das heißt: Niedrigere Einkommen und Vermögen werden relativ (und nicht nur absolut) geringer besteuert als hohe Einkommen und Vermögen. Das Gegenteil von progressiv ist regressiv: In diesem Fall werden niedrigere Einkommen im Durchschnitt prozentual höher besteuert als höhere Einkommen: Der prozentuale Anteil der zu zahlenden Steuern fällt mit der Einkommenshöhe. Von einer proportionalen Steuer (auch „Flat Rate Tax“ oder „Flat Tax“ genannt) spricht man, wenn der relative Anteil der zu zahlenden Steuern am Einkommen unabhängig von der Einkommenshöhe gleich bleibt. Die absolute Höhe der zu zahlenden Steuern steigt trotzdem mit der Einkommenshöhe an.

H5P-Element „Progressiv, regressiv, proportional?“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Ein Blick in die Steuergeschichte

Als Prototyp einer progressiven Steuer gilt bei uns die Einkommensteuer: Wer sehr wenig verdient, muss aufgrund des Grundfreibetrags gar keine Einkommensteuer zahlen. Jenseits dieses Freibetrags steigt der Grenzsteuersatz (also der Steuersatz, der auf den zuletzt verdienten Euro gezahlt wird, wir werden uns das unten noch genauer anschauen) dann mit der Höhe des Einkommens an. Der zweithöchste Grenzsteuersatz, der oft auch als „Spitzensteuersatz“ bezeichnet wird, liegt in Deutschland zurzeit bei 42 Prozent. Der eigentlich höchste Grenzsteuersatz von 45 Prozent (die sogenannte „Reichensteuer“) galt im Jahr 2022 für ledige Personen ab einem Jahreseinkommen von etwas unter 278.000 Euro.

Doch ein solches System ist keine Selbstverständlichkeit, sondern historisch gesehen noch einigermaßen jung – wann und wie ist es also entstanden?

Einführung der progressiven Einkommensteuer

Die progressive Einkommenssteuer, wie wir sie heute kennen, wurde in der Weimarer Republik im Jahr 1920 durch Finanzminister Matthias Erzberger eingeführt. Die Idee dazu gewann im 19. Jahrhundert an Bedeutung, als sich die Arbeiterschaft zunehmend als politische und gesellschaftliche Kraft etablierte und eine gerechtere Verteilung einzufordern begann. Sie wurde am Beginn der Weimarer Republik aufgegriffen, als es auch darum ging, wie die junge Republik die für ihre Existenz notwendigen finanziellen Mittel aufbringen könne und wie sich das Steuersystem im Reich stärker zentralisieren ließe.

Finanzminister Matthias Erzberger, der Vater der progressiven Einkommensteuer in Deutschland. Bildausschnitt aus: „Bundesarchiv Bild 146-1989-072-16, Matthias Erzberger“ von Diethart Kerbs, CC BY-SA 3.0, via flickr.com.

Der Wirtschaftsforscher Stefan Bach und der Historiker Marc Buggeln schreiben zur Reform des Jahres 1920:

„Die Lage der öffentlichen Finanzen war Mitte 1919 äußerst prekär. Das Reichsfinanzministerium schätzte den künftigen jährlichen Finanzbedarf auf 24 Mrd. Mark […]. Die hohen laufenden Defizite von bis zu zwei Dritteln der Ausgaben wurden zunächst weiter über die Geld- und Kreditschöpfung mobilisiert. Das heizte die Inflation kräftig an und drohte die öffentlichen Finanzen zu zerrütten. Erzberger machte die dramatische Finanzlage bei jeder Gelegenheit deutlich und verlangte massive Steuererhöhungen, um den Staatsbankrott abzuwenden. In 14 Gesetzen und weiteren Verordnungen wurden bis Ende März 1920 alle wesentlichen Steuern zentralisiert, modernisiert und deren Belastungen deutlich erhöht. Der Schwerpunkt sollte bei den ,direkten‘ Steuern auf Einkommen und Vermögen liegen, die mittelfristig drei Viertel des Steueraufkommens erzielen sollten. Die reichseinheitliche und progressive Einkommensteuer sollte die Haupteinnahmequelle werden, Vermögensteuern sollten die Wohlhabenden ergänzend belasten. Hier hatte es im Kaiserreich nur niedrige Belastungen gegeben. ,Gerechtigkeit im gesamten Steuerwesen zu schaffen ist mein oberstes Ziel. (…) Ein guter Finanzminister ist der beste Sozialisierungsminister‘, erklärte Erzberger in seiner ersten Rede vor der Nationalversammlung.

Die Einkommensteuer wurde auf das Reich übertragen und massiv ausgebaut. Sie sollte gut ein Drittel der ausgeweiteten Steuereinnahmen erbringen und wurde nach langen Debatten zum Ende der Reformperiode im März 1920 verabschiedet. Eine historische Zäsur waren die breite Bemessungsgrundlage und der deutlich progressive Steuertarif, verglichen mit den herkömmlichen Belastungen der Länder-Einkommensteuern. Höhere und vor allem hohe Einkommen sollten kräftig belastet werden, um die Ziele beim Steueraufkommen zu garantieren […].

[…] Anders als bei den bisherigen Einkommensteuergesetzen der Länder war damit die Steuerpflicht nicht nur auf die wohlhabenden Bürger beschränkt, sondern reichte bis weit in die Mittelschichten und zu gutverdienenden Facharbeitern herunter.

[…] Erzberger selbst erlebte die Weiterentwicklung seiner Reformen nicht mehr. Nach persönlichen Angriffen [gegen ihn] […] trat er im März 1920 zurück. Erzberger wurde zur Symbolfigur der in bürgerlich-konservativen Kreisen zumeist abgelehnten Republik. Dazu trugen wohl auch die Steuer- und Finanzreformen maßgeblich bei. Zudem wurde Erzberger von der rechten Propaganda als ,Novemberverbrecher‘ geschmäht, weil er sich in den letzten Kriegsjahren für einen Verständigungsfrieden eingesetzt und im November 1918 die deutsche Delegation geleitet hatte, die den Waffenstillstand unterzeichnete. Im August 1921 wurde er von Rechtsradikalen ermordet […].“

Video „Geschichte der progressiven Besteuerung in Deutschland“ von Achim Truger/Institut für Sozioökonomie, CC BY 3.0. Das Video wird hier yon youtube.com eingebettet.

Jüngere Diskussion um eine Steuerreformen

In den mehr als 100 Jahren seit seiner Einführung hat sich das unter Erzberger geschaffene Steuersystem in einigen Punkten gewandelt, aber es kam nicht zu einer fundamentalen Umgestaltung. Die Grundlagen des Systems haben also bis heute Gültigkeit, obwohl es immer wieder Diskussionen um die Notwenigkeit einer Reform des Steuersystems gab.

Über die Reformdiskussionen und politischen Maßnahmen in der Zeit zwischen der deutschen Wiedervereinigung bis unmittelbar nach der großen Finanz- und Wirtschaftskrise (ab 2007/2008) schreibt der Steuerexperte Stefan Bach:

„Eine intensive Diskussion über grundlegende Reformen der Unternehmens- und Einkommensbesteuerung entwickelte sich ab Mitte der 1990er Jahre und wirkt bis heute nach. […] Wachstumsschwäche, steigende Arbeitslosigkeit, nicht zuletzt aber auch die Diskussion um den Wirtschaftsstandort Deutschland vor dem Hintergrund einer sich internationalisierenden Wirtschaft hatten die Aufnahmebereitschaft von Öffentlichkeit und politischen Entscheidungsträgern für neoliberale Strukturreformen geschärft. Für die direkte Besteuerung wurden weitgehende Reformmodelle entwickelt, die eine deutliche Senkung der Steuersätze und die Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen vorsahen. […] Ferner wurden die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft und die Vermögenssteuer nicht mehr erhoben.

Die rot-grüne Regierungskoalition ab 1998 griff dann die Steuerreformpläne pragmatisch auf und setzte eigene Akzente. Die Einkommenssteuer-Spitzensätze wurden gesenkt, Steuervergünstigungen gestrichen und die Körperschaftssteuer grundlegend reformiert, um sie mit der Internationalisierung der Investitionsströme und Finanzmärkte besser kompatibel zu machen. […].

Eckwerte der Einkommensteuertarife, 1998–2023 (in Prozent)

Eckwerte der Einkommensteuertarife, 1998–2023 (in Prozent) von Julian Becker, CC BY 4.0 International. Quelle der Daten: Sozialpolitik-aktuell.de/Bundesfinanzministerium

Vor dem Hintergrund der anhaltenden Wachstumsschwäche und der Arbeitsmarkt- und Sozialreformen rückte ab 2003 eine noch grundsätzlichere Reformdiskussion zur Einkommens- und Unternehmensbesteuerung sowie zur radikalen Steuervereinfachung prominent auf die Agenda. Die Vorschläge kamen aus dem bürgerlich-liberalen Lager und zielten darauf, durch eine Bereinigung der Besteuerungsgrundlagen und eine Senkung der Steuersätze das Steuersystem zu vereinfachen, standortfreundlicher zu machen und Anreize für mehr Wachstum und Beschäftigung zu setzen. […]

Letztlich konnten sich diese Vorschläge nicht durchsetzen. Zum einen wurde deutlich, dass kräftige Senkungen der Steuersätze mit beträchtlichen Steuerausfällen verbunden gewesen wären. Die Verbreiterungen der Bemessungsgrundlagen stießen auf starken Widerstand einflussreicher Lobbyisten. Ferner entlasteten die meisten Vorschläge vor allem die hohen Einkommen. Dies bot Angriffspunkte, um diese Pläne als fiskalisch unsolide und sozial unausgewogen zu brandmarken. Die möglichen Wachstumsimpulse und Wohlfahrtseffekte von Steuervereinfachung und wirtschaftlich neutralerer Besteuerung wurden von der Fachwelt eher zurückhaltend eingeschätzt.

Nach der Bildung der Großen Koalition 2005 ebbte die Diskussion um die große Steuerreform ab. Mit einer deutlichen Mehrwertsteuererhöhung wurden die öffentlichen Haushalte saniert und die Sozialbeiträge stabilisiert. Wichtige Elemente der Reformdiskussion wurden mit der Unternehmenssteuerreform 2008 pragmatisch umgesetzt. Die Steuersätze wurden auf ein im internationalen Standortwettbewerb verträgliches Niveau von etwa 30 Prozent gesenkt, im Gegenzug die Bemessungsgrundlagen verbreitert und Steuergestaltungsmöglichkeiten reduziert. Die komplexen Strukturen aus Gewerbesteuer, Körperschaftssteuer und Einkommenssteuer wurden angesichts der schwierigen politischen und föderalen Gemengelage nicht neu geordnet, sondern entsprechend den unmittelbaren Anforderungen aufeinander abgestimmt. Die Kompromisse erwiesen sich bis heute als durchaus tragfähig, zumal auch auf internationaler Ebene die Steuerflucht- und Steuergestaltungsmöglichkeiten zunehmend bekämpft wurden und sich die sonstigen Standortbedingungen in Deutschland deutlich verbesserten. Einfacher und transparenter ist das Steuerrecht dadurch aber nicht geworden.“

Die zweigeteilte Einkommensteuer

Eine weitere steuerpolitische Maßnahme der ersten großen Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (2005 bis 2009) war, dass Kapitaleinkommen aus der progressiven Einkommensteuer herausgenommen wurden: Seit 2009 muss auf Kapitaleinkommen oberhalb eines Freibetrags ein einheitlicher Steuersatz von 25 Prozent gezahlt werden – unabhängig von der Höhe der Kapitaleinkommen. Hierbei handelt es sich also um eine proportionale Besteuerung, während andere Einkommensbestandteile weiterhin progressiv besteuert werden. Dabei wird diese sogenannte Abgeltungsteuer direkt von den auszahlenden Stellen (z.B. Banken) einbehalten und an das Finanzamt abgeführt. Ziel dieser Reform, die man auch als die „Dualisierung der Einkommensteuer“ bezeichnet, war laut der damaligen Regierung, die Kapitalflucht ins Ausland zur Vermeidung von Steuern zu verhindern. Berühmt geworden ist der Satz des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück (SPD): „Besser 25 Prozent von x als 42 Prozent von nix.“

Während die Steuerpolitik in den 2000er Jahren ein bürgerlich-liberales Thema war, wurde sie seit der Finanzkrise von den Parteien und gesellschaftlichen Organisationen des linksliberalen und linken politischen Spektrums unter Verteilungsgesichtspunkten aufgegriffen und in die öffentlichen Debatten getragen. Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung und der Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der 2000er Jahre hatten die Einkommens- und Vermögensungleichheit spürbar zugenommen und die Umverteilungswirkung des Steuersystems abgenommen. Trotz guter Entwicklung von Gesamtwirtschaft und Beschäftigung wurde darin eine Gerechtigkeitslücke ausgemacht. Mit höheren Spitzensteuersätzen, einer Vermögenssteuer und einer höheren Erbschaftssteuer sollten die Wohlhabenden und Reichen im Lande wieder stärker belastet werden. […]“

Video „Wo bleibt das Vermögen in Deutschland?“ der ZDF-Satiresendung „Die Anstalt“ thematisiert die Steuer- und Verteilungspolitik seit den 1990er Jahren. Das Video ist nicht unter einer offenen Lizenz veröffentlicht. Es wird hier von youtube.com eingebettet.

Der Lernabschnitt „Die progressive Einkommensteuer: Anfänge und neuere Entwicklungen“ enthält einen Auszug aus dem Text: „Permanente Steuerreform. Steuerpolitische Leitbilder und Entwicklungstrends der vergangenen Jahrzehnte“ von Stefan Bach für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de. Dieser ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 3.0 International Lizenz. Kürzungen mit freundlicher Erlaubnis der bpb und des Autors.

Der Lernabschnitt „Die progressive Einkommensteuer: Anfänge und neuere Entwicklungen“ enthält einen Auszug aus dem Text: „Geburtsstunde des modernen Steuerstaats in Deutschland 1919/1920“ von Stefan Bach, Marc Buggeln in: Wirtschaftsdienst 100/2020, Heft 1, S. 42–48. Dieser ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Der Text im Lernabschnitt „Die progressive Einkommensteuer: Anfänge und neuere Entwicklungen“ von Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Bitte beachten Sie, dass diese Lizenz nicht für die gekennzeichneten Textausschnitte anderer Autorinnen und Autoren gilt.

H5P-Element „Progressiv, regressiv, proportional?“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Drag and Drop“ steht unter einer MIT-Lizenz.

Das Video „Geschichte der progressiven Besteuerung in Deutschland“ von Achim Truger/Institut für Sozioökonomie ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Lizenz.

Die Abbildung „Eckwerte der Einkommensteuertarife, 1998–2023 (in Prozent)“ von Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: Sozialpolitik-aktuell.de/Bundesfinanzministerium.

Das Video „Wo bleibt das Vermögen in Deutschland?“ der ZDF-Satiresendung „Die Anstalt“ ist nicht unter einer offenen Lizenz veröffentlicht. Es wird hier von youtube.com eingebettet.