Bearbeiteter Ausschnitt aus „Humpback whale“ von M Cheng, gemeinfrei, via flickr.com.

Im Juli 1919 erklärte der damals gerade zum Finanzminister ernannte Matthias Erzberger gegenüber der Nationalversammlung: „Gerechtigkeit im gesamten Steuerwesen zu schaffen ist mein oberstes Ziel.“ Kann dieses Ziel – mehr als 100 Jahre nach seiner Rede – als erreicht gelten? Und was hat das mit einem Wal in einer Badewanne zu tun?

Manchmal liest man in Zeitungen Überschriften wie die folgende:

„50 Prozent zahlen 95 Prozent der Steuern“

„Daten des Finanzministeriums zeigen: Die obere Hälfte der Steuerpflichtigen zahlt inzwischen 95 Prozent des Steueraufkommens.“ (faz.net, 11.09.2013)

Laut dieser Überschrift scheint das von Erzberger einst installierte System also äußerst stark zu wirken und die Steuerlast bei der einkommensstärkeren Verteilungshälfte konzentriert – möglicherweise schießt das System sogar etwas über das Ziel hinaus. Funktioniert die progressive Besteuerung also?

Vor einiger Zeit wurde am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Studie durchgeführt. Die Forscher wollten die Frage beantworten, wer die Steuerlast in Deutschland zu tragen hat. Dazu versuchten sie, einen Großteil des Steuersystems sowie die Sozialversicherungsabgaben in den Blick zu nehmen. Zu welchen Ergebnissen kamen sie?

Schaut man zunächst auf die Verteilung der Bruttoäquivalenzeinkommen über die zehn Dezile (mit diesen Begriffen solltest du inzwischen vertraut sein), so kann man feststellen, dass die oberen zehn Prozent, auf die im Jahr 2015 rund 32 Prozent der Einkommen entfielen, rund 59 Prozent des Einkommensteueraufkommens (inkl. Solidaritätszuschlag und Unternehmensteuern) trugen. Die unteren 50 Prozent, auf die zusammengerechnet rund 24 Prozent der Einkommen entfielen, trugen zu 3,8 Prozent zur Gesamtsumme der Einkommensteuern bei. Addiert man die Anteile der oberen fünf Dezile, kommt man auf etwas mehr als die 95 Prozent, die in der Schlagzeile eingangs benannt wurden.

Anteil der Dezile am Gesamteinkommen, Deutschland 2015 (in Prozent)

Anteil der Dezile am Einkommensteueraufkommen, Deutschland 2015 (in Prozent)

Anteil der Dezile am Gesamteinkommen und am Einkommensteueraufkommen, Deutschland 2015 (in Prozent) von Julian Becker, CC BY 4.0 International. Quelle der Daten: DIW Berlin/integrierte Datenbasis SOEP und EVS sowie Einkommensteuerstatistik, fortgeschrieben auf 2015.

Daher kommen die Autoren der Studie zum Urteil:

„Die Einkommenskonzentration ist zwar hoch, aber wesentlich geringer als die Konzentration der Einkommenssteuer. Die Einkommenssteuerbelastung ist also progressiv.“  (Stefan Bach, Martin Beznoska und Viktor Steiner: Wer trägt die Steuerlast in Deutschland? Steuerbelastung nur schwach progressiv, in: DIW Wochenbericht 51+52, Berlin 2016, S. 1211).

Dieses Bild bestätigt sich, wenn man sich anschaut, wie die Durchschnittsbelastung mit Einkommensteuern in den Dezilen ausfällt. Während im unteren Dezil durchschnittlich 0,2 Prozent des Einkommens als Einkommenssteuer gezahlt werden (was nicht verwundert, da niedrige Einkommen unterhalb des Freibetrags ja nicht steuerpflichtig sind), steigt dieser Anteil kontinuierlich an und liegt im 10. Dezil bei knapp unter 25 Prozent. Dies wird in der folgenden Anwendung bildlich dargestellt, wenn du den Haken bei „Einkommensteuern“ setzt.

Das Bild verändert sich, sobald die indirekten Steuern (also insbesondere die Mehrwertsteuer, aber auch Energiesteuer, Tabaksteuer usw.) einbezogen werden. Betrachtet man nur diese Steuerarten, entfällt auf die untere Hälfte der Verteilung (die nach wie vor über rund 24 Prozent der Bruttoeinkommen verfügt) ein Anteil am Gesamtaufkommen von etwa 36 Prozent. Die obersten 10 Prozent tragen zu knapp einem Fünftel zu den indirekten Steuern bei, während sie ein Drittel der Einkommen erhalten.

Anteil der Dezile am Gesamteinkommen, Deutschland 2015 (in Prozent)

Anteil der Dezile an den indirekten Steuern, Deutschland 2015 (in Prozent)

Anteil der Dezile am Gesamteinkommen und an den indirekten Steuern, Deutschland 2015 (in Prozent) von Julian Becker, CC BY 4.0 International. Quelle der Daten: DIW Berlin/integrierte Datenbasis SOEP und EVS sowie Einkommensteuerstatistik, fortgeschrieben auf 2015.

Die Vermutung, dass die indirekten Steuern eher regressiv wirken könnten, bestätigt sich, wenn man betrachtet, wie hoch die prozentuale Belastung des Einkommens durch diese Steuern ausfällt: Während im untersten Dezil fast 23 Prozent des Einkommens für indirekte Steuern aufgewendet werden müssen, geht dieser Anteil über die Dezile hinweg stetig zurück und liegt im 10. Dezil bei etwas unter 7 Prozent. Dies hat auch damit zu tun, dass reichere Haushalte einen geringeren Anteil ihres Einkommens für Konsum aufwenden als ärmere Haushalte und mehr sparen, wodurch die Verbrauchssteuern erst später anfallen. Schau nochmal in die Anwendung oben und setze den Haken bei „Indirekte Steuern: Insgesamt“, um diese Schilderung besser nachvollziehen zu können.

Vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses schreiben die Autoren der Studie:

„Nach der üblichen Definition ist eine Steuer progressiv, wenn die Durchschnittsbelastung mit steigendem Einkommen zunimmt. Das Gegenteil ist eine regressive Steuerbelastung, wenn die Durchschnittsbelastung mit steigendem Einkommen sinkt. Deutlich progressiv sind die Einkommen- und Unternehmensteuern, wie vom Gesetzgeber beabsichtigt. […] Dagegen wirken die indirekten Steuern stark regressiv.“  (ebd.)

Ein letzter Blick sei auf die Sozialbeiträge geworfen, also z. B. die Beiträge, die von Arbeitnehmerinnen und Arbeitgeberinnen für Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherungen gezahlt werden. Hier kann man ein gemischtes Fazit ziehen: Bis ins 9. Dezil wirken diese Beiträge leicht progressiv, das heißt der Anteil des Einkommens, der für diese Beiträge aufgewendet werden muss, steigt (wenn auch nicht so deutlich wie bei der Einkommenssteuer). Im zehnten Dezil hingegen geht dieser Anteil wieder zurück – u. a. ein Effekt der sogenannten Beitragsbemessungsgrenze (dies ist eine Grenze, oberhalb der auf zusätzliches Einkommen keine Sozialbeiträge mehr anfallen, was dazu führt, dass der prozentuale Anteil der Sozialbeiträge immer weiter sinkt, je höher das Einkommen jenseits der Beitragsbemessungsgrenze steigt). Auch die Sozialbeiträge kannst Du in der GeoGebra-Anwendung untersuchen, wenn du den entsprechenden Haken setzt.

Diese Beobachtungen zu den verschiedenen Bereichen wurden von den Autoren schließlich in einer Abbildung zusammengeführt, die als „Wal in der Wanne“ bekannt geworden ist und einen Eindruck über die Verteilungswirkung des Steuersystems vermittelt. Du kannst den „Wal in der Wanne“ auch in der GeoGebra-Anwendung oben erkennen, dort ist die „Auflösung“ durch die Darstellung der Dezile statt Perzentile aber schlechter.

Schaut man nur auf die Auswirkungen der Steuern (also die blauen und grauen Bereiche) erkennt man, dass die Steuerbelastung im unteren Einkommensbereich regressiv ist. Erst bei den mittleren Einkommen bildet sich eine zunehmend progressive Besteuerung heraus. Dieser Gesamteffekt liegt im unteren Bereich vor allem an der hohen Bedeutung indirekter Steuern (die dunkelgraue Fläche) für die Haushalte, die kaum Einkommensteuern zahlen. Geringe und mittlere Einkommen sind somit stark durch indirekte Steuern belastet. Hierin sehen die Autoren der Studie eine Verletzung des Leistungsfähigkeitsprinzips. Schaut man hingegen nur auf die Einkommensbesteuerung, weise diese in der Tat einen ausgeprägten progressiven Verlauf auf.

Die gesamte Steuerbelastung – so Stefan Bach, einer der Autoren der Studie – sei

„insgesamt doch erstaunlich gleichmäßig und nur wenig progressiv. […] Wir hatten in den letzten Jahrzehnten einen Trend weg von den direkten Steuern, also von der progressiven Einkommensteuer, hin zu den indirekten Steuern. Das hat die Progression der Steuerlastverteilung verringert. Die staatliche Umverteilung durch das Steuersystem ist dadurch zurückgegangen, und das hat zu der zunehmenden Ungleichheit auf Ebene des Haushaltsnettoeinkommens leicht beigetragen. Wenn man das Leistungsfähigkeitsprinzip ernst nimmt, dann würde man erwarten, dass die Steuerbelastung progressiver ist. Tatsächlich aber haben wir über die indirekten Steuern eine relativ starke Belastung bei den unteren Einkommen.“  (Interview mit Stefan Bach: „Die Steuerbelastung ist insgesamt erstaunlich gleichmäßig.“ in: DIW Wochenbericht 51+52, Berlin 2016, S. 1217)

Die Sozialbeiträge gleichen die Effekte des Steuersystems teilweise aus, am oberen Ende Einkommensverteilung dreht sich dieser Effekt aber dann wieder um.

Wie immer in den Sozialwissenschaften gelten natürlich auch hier eine Reihe von Einschränkungen: So mussten die Autoren zahlreiche Annahmen treffen, die sich hinterfragen lassen. Auch könnte der Effekt der progressiven Einkommensbesteuerung in den oberen Dezilen überzeichnet sein, weil Unternehmensgewinne teilweise nicht an die (reichen) Unternehmenseigentümerinnen ausgeschüttet werden, sondern in den Unternehmen verbleiben (einbehaltene Gewinne). Würden diese Gewinne einbezogen, könnte das zur Folge haben, dass die Einkommenssteuerbelastung in den reicheren Dezilen geringer ausfällt – und damit auch die Progressivität der Einkommensteuer. Andererseits gibt es auch Gründe dafür, dass der regressive Effekt indirekter Steuern in der Studie unterschätzt wird.

Trotzdem lässt sich das Fazit ziehen: Wenn man die Verteilungswirkung von Steuern verstehen möchte, reicht es nicht aus, eine einzige Steuer – die progressiv gestalteten Einkommensteuer – anzuschauen, wie dies der eingangs vorgestellten Schlagzeile gemacht wurde. Stattdessen muss man die Mischung von direkten und indirekten Steuern sowie Sozialbeiträgen in den Blick nehmen. Eine Charakterisierung des deutschen Steuer- und Abgabensystems als eindeutig progressiv, wie es die anfangs zitierte Überschrift nahelegt, übersieht möglicherweise die Komplexität des Systems.

Der Text im Lernabschnitt „Was hat ein Wal mit gerechten Steuern zu tun?“ von Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Die Abbildung „Anteil der Dezile am Gesamteinkommen, Deutschland 2015 (in Prozent)“ von Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: DIW Berlin/integrierte Datenbasis SOEP und EVS sowie Einkommensteuerstatistik, fortgeschrieben auf 2015.

Die Abbildung „Anteil der Dezile am Einkommensteueraufkommen, Deutschland 2015 (in Prozent)“ von Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: DIW Berlin/integrierte Datenbasis SOEP und EVS sowie Einkommensteuerstatistik, fortgeschrieben auf 2015.

Die Abbildung „Anteil der Dezile an den indirekten Steuern, Deutschland 2015 (in Prozent)“ von Julian Becker ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Quelle der Daten: DIW Berlin/integrierte Datenbasis SOEP und EVS sowie Einkommensteuerstatistik, fortgeschrieben auf 2015.

GeoGebra-Element „Steuern und Sozialbeiträge in Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens 2015 von Julian Becker, erzeugt mit GeoGebra ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported Lizenz. Bitte beachten Sie außerdem die GeoGebra Lizenz.

Die Abbildung „Steuern und Sozialbeiträge in Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens 2015“ von Bundeszentrale für politische Bildung, 2021, bpb.de, ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland.