Kapitel 2: Wie lässt sich Arbeitslosigkeit bekämpfen? Kontroverse um Konzepte der Wirtschaftspolitik

Geringe Arbeitslosigkeit gilt als eines der wichtigsten Ziele der Wirtschaftspolitik. Warum ist das so? Wie lässt sich Arbeitslosigkeit bekämpfen? Anhand dieses Beispiels werden verschiedene Konzepte der Wirtschaftspolitik vorgestellt, die unterschiedliche Lösungen für wirtschaftliche Probleme vorschlagen. Sie werden häufig als angebots- und nachfrageorientiert bezeichnet und konzentrieren sich jeweils vorrangig auf eine Seite des BIP. Schließlich schauen wir uns an, was die Gründe dafür sein könnten, dass Wirtschaftsforscherinnen immer wieder unterschiedliche Meinungen vertreten.

Arbeitslosigkeit war noch am Beginn dieses Jahrtausends das mit Abstand größte Problem der Bundesrepublik. Zu diesem Urteil kommt man, wenn man sich die Ergebnisse der regelmäßigen Meinungsumfrage „Politbarometer“ anschaut: Seit dem Jahr 2000 wurde „Arbeitslosigkeit“ fast immer am häufigsten genannt, wenn die Umfrageteilnehmerinnen danach gefragt wurden, welche Probleme ihnen am wichtigsten erscheinen. Erst seit dem Jahr 2014 hat die Arbeitslosigkeit den ersten Platz unter den Problemen eingebüßt.

Das könnte damit zu tun haben, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland – anders als in anderen Ländern Europas – momentan recht niedrig erscheint. Bei einer schlechten Wirtschaftslage wird sich dies in Zukunft allerdings vermutlich auch wieder ändern. Manche Wissenschaftlerinnen gehen außerdem davon aus, dass Arbeitslosigkeit in Zukunft aufgrund technologischer Fortschritte wieder stark zunehmen könnte, während andere dies bestreiten. Sollten solche Entwicklungen eintreten, dürfte Arbeitslosigkeit als Problem wieder wichtiger werden.

„Kein Land, wie reich es auch sein mag, kann sich die Verschwendung seiner menschlichen Ressourcen leisten. Die Demoralisierung, die durch die hohe Arbeitslosigkeit verursacht wird, ist unsere größte Verschwendungssucht. Moralisch gesehen ist sie die größte Bedrohung für unsere Gesellschaftsordnung.“

US-Präsident Franklin D. Roosevelt, 1934 (eigene Übersetzung)

Arbeitslosigkeit: Ein Problem mit vielen Gesichtern

Dass Arbeitslosigkeit von vielen als ein zentrales Problem angesehen wird, verwundert kaum: Schließlich ist das Lohneinkommen für den größten Teil der Haushalte die wichtigste Einkommensquelle und somit für ihre wirtschaftliche Lage entscheidend. Beruf und Arbeit sind für viele Menschen identitätsstiftend. Sie bestimmen über die soziale Anerkennung und ermöglichen soziale Kontakte. Dies leidet, wenn Menschen arbeitslos sind. Zudem kann hohe Arbeitslosigkeit auch politische Konflikte auslösen. Sind viele Menschen arbeitslos, kann die politische Stabilität bedroht sein. Daher verwundert es kaum, dass eine hohe Beschäftigung als Ziel sowohl im alten magischen Viereck, als auch im Bereich „ökonomische Nachhaltigkeit“ des neuen magischen Vierecks auftaucht. Auf die Mehrdimensionalität des Problemfeldes Arbeitslosigkeit gehen wir im Auftakt ein. Zudem schauen wir uns dort an, wie die sich Arbeitslosigkeit überhaupt messen lässt. Dazu muss man eine Reihe von Begriffen kennen.

Angebot oder Nachfrage?

So wenig umstritten die Diagnose über die Folgen von Arbeitslosigkeit ist, so kontrovers wird die Auseinandersetzung um die Problemlösung geführt. Sei es zwischen Parteien, Vertreterinnen von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften oder Wirtschaftsforscherinnen: Oft gibt es Streit darüber, wie Arbeitslosigkeit am besten zu bekämpfen sei.

Einige vertreten die Auffassung, dass eine Bekämpfung nur gelingen kann, wenn der Staat sich aus der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt weitgehend heraushält. Zu hohe Löhne, zu großzügige staatliche Sozialleistungen und zu hohe Steuern werden nach dieser Sichtweise als Hindernis für eine geringere Arbeitslosigkeit gesehen. All dies mache es für die Unternehmen zu teuer oder bürokratisch zu aufwendig, zusätzliche Beschäftigte einzustellen. Würden solche Hürden beseitigt, verschwinde die Arbeitslosigkeit bis zu einem gewissen Maß ganz von alleine.

Andere wiederum halten diese Hoffnung für unberechtigt: Sie setzen darauf, dass höhere Löhne, staatliche Umverteilung zu Gunsten von einkommensschwächeren Haushalten oder höhere Staatsausgaben dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Das Argument dahinter: Wenn die Bevölkerung und der Staat mehr Güter und Dienstleistungen nachfragen, können die Unternehmen mehr produzieren und werden zu diesem Zweck zusätzliche Beschäftigte einstellen.

In den 2010er-Jahren wurde die Debatte zwischen diesen beiden Auffassungen besonders mit Blick auf die Länder im Süden Europas geführt (zum Beispiel Spanien, Italien und Griechenland), die mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatten. Kontrovers diskutiert wurde dabei, wie Europa wieder zu mehr Wachstum und Beschäftigung finden kann.

„Wortwolke zu Kapitel 2“ von Julian Becker, CC BY 4.0, erstellt mit Voyant Tools.org.

Dabei lassen sich diese beiden Positionen auf konkurrierende wirtschaftswissenschaftliche Perspektiven zurückführen: Der Einfachheit halber unterscheiden wir im folgenden Kapitel die Perspektiven Neoklassik und Keynesianismus. Die Neoklassik bezeichnen wir auch als Angebotsorientierung, während wir für den Keynesianismus auch den Begriff Nachfrageorientierung verwenden. Beide Sichtweisen betonen die Wichtigkeit einer jeweils anderen Seite des BIP.

Dies ist sicherlich eine Vereinfachung, weil die meisten Wirtschaftsforscherinnen sowohl angebots- als auch nachfrageseitig argumentieren und Ideen aus der Neoklassik und dem Keynesianismus in ihre Analysen einbeziehen. Dennoch ist diese schematische Unterscheidung hilfreich, um die wissenschaftliche und wirtschaftspolitische Auseinandersetzung zu verstehen. Diese beiden Konzeptionen spielen auch bei anderen wirtschaftspolitischen Problemfeldern eine große Rolle, wie wir später sehen werden. Es ist also sinnvoll, sich anhand des Beispiels der Arbeitslosigkeit mit ihren Grundgedanken vertraut zu machen.

Wertfrei, unabhängig, objektiv?

Aber woher kommen eigentlich unterschiedliche Auffassungen der wissenschaftlichen Expertinnen zu wirtschaftlichen Fragen? Trennen manche Forscherinnen nicht ausreichend zwischen wissenschaftlichen Positionen und den Interessen einzelner Gruppen (wie Beschäftigten und Unternehmensbesitzerinnen)? Ist eine werturteilsfreie Analyse in der Wissenschaft von der Wirtschaft im gleichen Maße möglich wie etwa in den Naturwissenschaften? Diesen Fragen werden wir in einem Perspektivwechsel nachgehen. Sie sollen beispielhaft anhand der Kontroverse über die bzw. zwischen den sogenannten Wirtschaftsweisen, einem wirtschaftspolitischen Expertinnengremium der Bundesregierung, diskutiert werden.

Von (links) oben nach (rechts) unten: Bearbeiteter Ausschnitt aus „Facilitating the debate on the scientific and technological progress“ von SISSA, CC BY-NC-SA 2.0, via flickr.com; Bearbeiteter Ausschnitt aus „Klosterkirche Windberg ( Niederbayern ). Rococofresken ( 1755 ) an der Decke von Franz Xaver Merz: Zug der Heiligen Drei Könige nach Bethlehem – Detail.“ von Wolfgang Sauber, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons; Bearbeiteter Ausschnitt aus „Stich aus dem Jahre 1710: Zentralperspektive zeichnen“, gemeinfrei, via Wikimedia Commons.

Der Text im Lernabschnitt „Kapitel 2: Wie lässt sich Arbeitslosigkeit bekämpfen? Kontroverse um Konzepte der Wirtschaftspolitik“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter einer CC BY 4.0.

„Wortwolke zu Kapitel 1“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Erstellt mit Voyant Tools.org.

2024-04-05T15:48:48+00:00

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