Die Frage danach, ob eine wirtschaftliche Schwächephase konjunkturell bedingt ist oder strukturelle Ursachen hat, ist für die Wirtschaftspolitik sehr bedeutsam: Schließlich unterscheiden sich in beiden Fällen die politischen Maßnahmen, die ergriffen werden sollten. Oftmals entzünden sich hieran auch wissenschaftliche und politische Kontroversen. Dazu schauen wir uns das Fallbeispiel der „Agenda 2010“ an.

#Ökonomie für Expertinnen

Die Agenda 2010 wurde vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder im März 2003 angekündigt und in den darauf folgenden Monaten umgesetzt. Hierbei handelte es sich um eine umfassende Strukturreform des deutschen Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme der Bundesrepublik mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen. Seit einiger Zeit wird nun darüber gestritten, welche Auswirkungen diese Reform hatte und insbesondere, inwiefern der Rückgang der Arbeitslosenquote seit 2005 auf diese Reformen zurückzuführen ist (siehe dazu auch unten unter „Medien & Links“).

Befürworterinnen der Agenda 2010 argumentierten im Einklang mit einer neoklassisch orientierten Ursachenanalyse, die Stagnation der Wirtschaftsleistung in Deutschland seit dem Jahr 2001 sei auf strukturelle Probleme zurückzuführen, die mit konjunkturellen Maßnahmen nicht zu bekämpfen seien. Daher wurde unter anderem die Kürzung der Höhe und Dauer der Arbeitslosenunterstützung beschlossen, um die Anreize für Arbeitslose zu verstärken, nach einer neuen Beschäftigung zu suchen. Gerhard Schröder lobte diese Politik im Jahr 2005 mit den Worten: „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“ Begleitet wurden die Arbeitsmarktreformen mit Steuererleichterungen, insbesondere für besserverdienende Privatpersonen und Unternehmen, u. a. mit dem Ziel, die Leistungs- und Investitionsbereitschaft in den Unternehmen zu befördern. Befürworter der Agenda 2010 führen den Rückgang der Arbeitslosigkeit seit dem Jahr 2005 auf den Erfolg der Strukturreformen zurück.

Video „Jahrestag einer Ungeliebten – Agenda 2010 | Journal“ von © DW Deutsch. Das Video ist nicht unter einer offenen Lizenz veröffentlicht und wird hier von Youtube.com eingebettet.

Keynesianisch orientierte Kritikerinnen der Agenda 2010 attestieren der deutschen Volkswirtschaft hingegen konjunkturelle Probleme in der ersten Hälfte der 2000er Jahre. Sie argumentierten, dass die staatliche Sparpolitik (Zurückhaltung bei den Staatsausgaben), mit welcher die Debatte um die Agenda 2010 begleitet wurde, kontraproduktiv war und die Probleme am Arbeitsmarkt verschärfte. Die keynesianischen Kritikerinnen behaupten zudem, dass die Arbeitslosigkeit nach der Agenda 2010 vor allem deshalb zurückgegangen ist, weil unmittelbar nach Beendigung der Reformen ein kräftiger konjunktureller Aufschwung folgte, der mit der Agenda 2010 wenig zu tun gehabt habe. Sie kritisieren auch, dass die Binnennachfrage und insbesondere der private Konsum durch die Agenda 2010 beschädigt wurden, weil viele Haushalte aus Angst, in die Armut zu fallen, ihren Konsum einschränkten. Dadurch sei Deutschland stark von der Exportnachfrage aus dem Ausland abhängig geworden. Die Arbeitslosigkeit hätte auch auf anderem Wege bekämpft werden können, ohne einen Anstieg der Ungleichheit zu befördern.

Reales BIP in Deutschland, 1994–2018

Reales BIP in Deutschland, 1994 bis 2018, von Julian Becker, CC BY 4.0. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU-Kommission.

Arbeitslosenquote in Deutschland, 1994–2018

Arbeitslosenquote in Deutschland, 1994–2018 von Julian Becker, CC BY 4.0. Quelle der Daten: Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf.

Outputlücke und staatlicher Finanzierungssaldo in Deutschland, 1994 bis 2018

Outputlücke und staatlicher Finanzierungssaldo in Deutschland, 1994 bis 2018, von Julian Becker, CC BY 4.0. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU-Kommission.

Wachstumsrate des realen BIP und Wachstumsbeiträge in Deutschland, 1994-2018

Wachstumsrate des realen BIP und Wachstumsbeiträge in Deutschland, 1994 bis 2018, von Julian Becker, CC BY 4.0. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU-Kommission.

Kennzahlen der Arbeitsmarktentwicklung im letzten Aufschwung vor (Spalte 1) und im ersten Aufschwung nach (Spalte 2) der „Agenda 2010“

Quartale Q1 1999 bis Q1 2001 Q2 2005 bis Q1 2008 Q1 1999 bis Q4 2009
Veränderung des BIP (in Prozent) 5,6 8,3 9,5
Veränderung Erwerbstätige (in Prozent) 2,8 3,6 5,1
Veränderung Erwerbstätige (in Prozent) / Veränderung BIP (in Prozent) 0,5 0,43 0,54
Veränderung Arbeitsvolumen (in Prozent) 0,9 3,9 -1,6
Veränderung Arbeitsvolumen (in Prozent) / Veränderung BIP (in Prozent) 0,16 0,47 -0,17
Veränderung Arbeitslosenquote (in Prozentpunkten) -1,2 -3,1 -1,1
Veränderung Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten (in Prozentpunkten) -2,3 -3 0,6
Veränderung Langzeitarbeitslose in Prozent der Arbeitslosen (in Prozentpunkten) -2,4 -1,7 -4,2
Veränderung der strukturellen Arbeitslosigkeit (in Prozentpunkten) 0,1 -0,3 0,2
Veränderung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (in Prozent) -0,3 -1,5 -2,2
Veränderung des Gini-Koeffizient (in Prozentpunkten) 0 4 5

Kennzahlen der Arbeitsmarktentwicklung im letzten Aufschwung vor (Spalte 1) und im ersten Aufschwung nach (Spalte 2) der „Agenda 2010“. Quelle der Daten: Eurostat, OECD Economic Outlook, WSI-Mitteilungen. Gini-Koeffizient: Maß für die Ungleichheit der Einkommensverteilung, ein Anstieg des Gini-Koeffizienten bedeutet eine Zunahme der Ungleichheit.

Hinweis: Wie ist die Tabelle zu lesen? Im letzten Aufschwung vor der Agenda 2010 (vom ersten Quartal 1999 bis zum ersten Quartal 2001, Spalte 1) ist das BIP insgesamt um 5,6 Prozent gestiegen (Zeile 1). Die Zahl der Erwerbstätigen ist um 2,8 Prozent gestiegen (Zeile 2). Das bedeutet, dass pro Prozentpunkt höherem BIP die Zahl der Erwerbstätigen um 0,5 Prozent gestiegen ist (Zeile 3).

Der Text „Ökonomie für Expertinnen: Der Streit um die Wirkungen der ,Agenda 2010‘“ von Julian Becker, Till van Treeck ist lizenziert unter CC BY 4.0.

Video „Jahrestag einer Ungeliebten – Agenda 2010 | Journal“ von © DW Deutsch. Das Video ist nicht unter einer offenen Lizenz veröffentlicht und wird hier von Youtube.com eingebettet.

Die Abbildung „Reales BIP in Deutschland, 1994–2018“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0.Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU-Kommission.

Die Abbildung „Arbeitslosenquote in Deutschland, 1994–2018“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf.

Die Abbildung „Outputlücke und staatlicher Finanzierungssaldo in Deutschland, 1994 bis 2018“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU-Kommission, GENESIS-Datenbank des Statistischen Bundesamtes, eigene Berechnung.

Die Abbildung „Wachstumsrate des realen BIP und Wachstumsbeiträge in Deutschland, 1994-2018“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: Ameco-Datenbank der EU-Kommission.