Bearbeiteter Ausschnitt aus „measuring tape“ von Sean MacEntee, CC BY 2.0, via flickr.com.

Bei aller theoretischen Eleganz der Verbindung von neoklassischen und keynesianischen Elementen in der Neuen Neoklassischen Synthese ist der Streit zwischen den Denkschulen dennoch bis heute bei Weitem nicht ausgeräumt. Dies liegt zum Beispiel an der praktischen Schwierigkeit, die Größe der Output-Lücke zu bestimmen. Außerdem sind Konjunktur und Struktur nicht so unabhängig voneinander, wie es vielleicht zunächst scheint.

#Ökonomie für Expertinnen #(Post)Keynesianismus #Neoklassik

Wer weiß schon, wie groß gerade die Output-Lücke ist?

Um Politikerinnen gute wirtschaftspolitische Empfehlungen geben zu können, müssen Wirtschaftsforscherinnen klären, wie die konjunkturelle Lage einer Volkswirtschaft ist. Leider ist es oft gar nicht so einfach, Konjunktur und Struktur auseinanderzuhalten. Die Geogebra-Anwendung unten zeigt an einem hypothetischen Beispiel, wie Wirtschaftsforscherinnen versuchen, konjunkturelle und strukturelle Entwicklungen voneinander zu unterscheiden.

Im oberen Teil der Abbildung ist die vergangene, tatsächliche beobachtbare Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts abgebildet (rote Linie). Du kannst nun eine Trendlinie durch die Zeitreihe des für die Vergangenheit beobachteten BIP legen (aktiviere das Kästchen „Trendlinie“), so dass die positiven und negativen Abweichungen des BIP vom Trend im Durchschnitt gleich Null sind (positive und negative Output-Lücken gleichen sich aus). Diese Art der Abbildung kennst du schon aus einem vorherigen Lernabschnitt – wenn nicht, solltest du erst diesen bearbeiten.

Setzte nun auch ein Häkchen bei „Output-Lücken“, damit diese dargestellt werden. An der horizontalen Achse werden nun fünf Zeitpunkte (t = 1, 2, 3, 4, 5) abgebildet. Diese Zeitpunkte können wir so interpretieren, dass hier die Output-Lücke geschlossen war, d. h. die Wirtschaft sich in einer konjunkturell neutralen Situation befand: Zu diesen Zeitpunkten ist das tatsächlich beobachtete BIP (rote Linie) genau so groß wie der (im Nachhinein) bestimmte Trend. Zwischen den Zeitpunkten liegen entweder positive oder negative Output-Lücken vor.

Im unteren Teil der Abbildung sehen wir dann, dass bei konjunkturell neutraler Wirtschaftslage (es gibt also weder einen Nachfragemangel, noch eine zu kräftige Güternachfrage) die Arbeitslosigkeit vollständig strukturell bedingt ist, während sie im Konjunkturaufschwung (positive Output-Lücke) zurückgeht, und im Konjunkturabschwung (negative Output-Lücke) ansteigt. Ähnlich verhält es sich mit dem Staatshaushalt. Im Konjunkturaufschwung verbessert sich der staatliche Budgetsaldo, u. a. weil die Steuereinnahmen steigen und der Staat weniger Arbeitslosenunterstützung zahlen muss. Im Abschwung verschlechtert sich der staatliche Budgetsaldo (das Defizit steigt).

Nehmen wir nun an, wir befinden uns im Zeitpunkt t = 5 und die Output-Lücke sei geschlossen. Nun bricht plötzlich die Produktion ein, und es kommt zu einer Rezession. Klicke dazu auf das Feld „Rezession“. Was passiert? Das beobachtbare BIP geht zurück, die Arbeitslosigkeit steigt, das Defizit des Staates schnellt in die Höhe.

Die Frage ist nun: Handelt es sich um ein konjunkturelles Phänomen, das nur mit keynesianischen Analyseinstrumenten zu begreifen ist? Oder liegt ein strukturelles Problem vor, das aus neoklassischer Perspektive analysiert werden kann? Alles hängt davon ab, wie die Entwicklung des Produktionspotenzials eingeschätzt wird. Wenn etwa die Entwicklung der Vergangenheit fortgeschrieben wird (setze das Häkchen bei „Trend fortschreiben“), muss eine große negative Output-Lücke festgestellt werden. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit ist konjunkturbedingt, das Niveau der strukturellen Arbeitslosigkeit hat sich nicht verändert. Ebenso ist der Anstieg des staatlichen Defizites konjunkturell zu erklären, das strukturelle Defizit bleibt unverändert. Es kann unter Umständen (etwa, wenn die Geldpolitik keinen Handlungsspielraum mehr hat und die Arbeitslosigkeit trotz Nullzinsen hoch bleibt) sogar gefordert werden, dass der Staat sein Defizit durch ein großes Konjunkturprogramm ausweitet und sich den keynesianischen Multiplikator zu Nutze macht, um Produktion und Beschäftigung wieder zu erhöhen.

Wenn hingegen eine Angebotskrise diagnostiziert wird, so wird die Schätzung des Produktionspotenzials nach unten korrigiert werden müssen (setze das Häkchen bei „Trend anpassen“). In diesem Fall fällt die negative Output-Lücke sehr viel kleiner aus, der Anstieg der Arbeitslosigkeit und des staatlichen Defizits wird als strukturell interpretiert. Hieraus kann dann die Notwendigkeit von Strukturreformen am Arbeitsmarkt und eines staatlichen Sparprogramms (Austeritätspolitik) abgeleitet werden. Denn in einem solchen Fall kann die Arbeitslosigkeit nicht durch automatische Stabilisatoren, diskretionäre Fiskalpolitik oder Niedrigzinspolitik bekämpft werden, eben weil sie nicht konjunkturell bedingt ist.

Der theoretische Grundkonflikt zwischen Neoklassik und Keynesianismus ist also zurück. Der tiefere Grund liegt schlicht darin, dass es zwar im Nachhinein einfach ist, den beobachteten Verlauf des BIP, der Arbeitslosigkeit und des staatlichen Defizits in einen Trend und die Abweichungen um diesen Trend zu zerlegen. Sehr viel schwieriger ist es hingegen, die gegenwärtige oder sogar zukünftige Entwicklung des Produktionspotenzials abzuschätzen. Und gerade deswegen bleiben theoretische Auseinandersetzungen von Bedeutung für wirtschaftspolitische Debatten.

Argument 2: Hysterese

Hinzu kommt ein zweiter Punkt: Die neoklassische Synthese zeigt: Ist die Output-Lücke geschlossen – gibt es also weder Nachfragemangel, noch eine konjunkturelle Überhitzung – ist die vorliegende Arbeitslosigkeit ausschließlich strukturell bedingt. Das hört sich zunächst sehr einfach an, Struktur und Konjunktur lassen sich anscheinend gut voneinander trennen. Das Hysterese-Argument zeigt allerdings, dass das oft doch nicht so einfach ist.

Aus keynesianischer Sicht ist es denkbar, dass eine anfänglich konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit sich zu einer strukturellen Arbeitslosigkeit verfestigt, wenn nicht rechtzeitig Maßnahmen zur Stabilisierung der Nachfrage (Konjunkturprogramme) ergriffen werden. Denn wenn viele ehemals beschäftigte Personen lange Zeit aus konjunkturellen Gründen arbeitslos sind, kann es sein, dass sich ihre Qualifikationen und ihre Arbeitsmoral verflüchtigen. Gleichzeitig kann es sein, dass die Unternehmen bei einer lang anhaltenden Nachfrageschwäche weniger in die Ausbildung ihrer Beschäftigten und die Erneuerung ihrer technischen Ausstattung investieren. Hierdurch würde sich nach und nach die strukturelle Arbeitslosigkeit erhöhen, so dass zu spät kommende Konjunkturprogramme nicht mehr den gleichen Effekt auf die Beschäftigung haben wie sofortige Konjunkturprogramme: Nach einer gewissen Zeit sind Arbeitslose und Unternehmen nicht mehr ohne Weiteres in der Lage, die weggefallenen Arbeitsplätze sofort wieder zu schaffen. In der unten gezeigten Abbildung, die du schon aus dem vorherigen Lernabschnitt kennst, bedeutet das:  Das Arbeitsmarktgleichgewicht an der waagerechten Achse verschiebt sich nach links, das Produktionspotenzial an der senkrechten Achse nach unten.

H5P-Element „Der Hysterese-Effekt“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Umgekehrt ist auch denkbar, dass bei einer positiven Output-Lücke zwar zunächst die Inflation steigt, weil die Unternehmen die Kapazitätsgrenzen erreichen und die Arbeitnehmerinnen höhere Löhne fordern. Wenn der Staat sich trotz der drohenden Überhitzung passiv verhält, kann es sein, dass die Unternehmen durch hohe Investitionen und durch Qualifizierung von bisher arbeitslosen Personen ihre Produktionskapazitäten steigern und sich die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmerinnen verbessert, wodurch sich das Arbeitsmarktgleichgewicht nach rechts, und das Produktionspotenzial nach oben verschiebt. Mit anderen Worten: Durch den anfänglichen konjunkturellen Boom kommt es mittelfristig zu einer strukturellen Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Lage.

Dieser mögliche (negative wie positive) Einfluss der Konjunktur auf die Struktur der Volkswirtschaft wird auch als „Hysterese“ bezeichnet (in Anlehnung an ein Konzept aus der Physik). Hierdurch wird die Trennung von konjunkturellen und strukturellen Entwicklungen erschwert. Es ist daher nicht unüblich, dass Ökonomen darüber streiten, ob in einem bestimmten Land zu einem bestimmten Zeitpunkt ein konjunkturelles oder ein strukturelles Problem vorliegt. Der theoretische Grundkonflikt zwischen Neoklassik und Keynesianismus bleibt somit prägend für wirtschaftspolitische Debatten.

Der Text „Ökonomie für Expertinnen: Die Rückkehr des Streits zwischen den Denkschulen“ von Julian Becker, Till van Treeck ist lizenziert unter CC BY 4.0.

GeoGebra-ELement „Struktur oder Konjunktur?“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY-SA 3.0. Bitte beachten Sie außerdem die GeoGebra Lizenz.

H5P-Element „Der Hysterese-Effekt“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Agamotto“ steht unter einer MIT-Lizenz.