In der Wirtschaftspolitik gibt es eine Kontroverse zwischen angebotsorientierter Wirtschaftspolitik, die sich auf die Denkschule der Neoklassik bezieht, und nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik, die auf die Theorie des Keynesianismus zurückgreift. Auch in der Konjunkturtheorie findet sich diese Kontroverse wieder. In einer Synthese wird versucht, beide Theorien miteinander zu verbinden.

#(Post)Keynesianismus #Neoklassik

Technisch formuliert versteht man unter Konjunktur kurzfristige Schwankungen des Bruttoinlandsprodukts (Schaubild 1 im H5P-Element unten, rote Kurve) um einen Wachstumstrend herum (Schaubild 2, blaue gestrichelte Linie). Der Wachstumstrend wird dabei auch als Anstieg des Produktionspotenzials bezeichnet. Das Produktionspotenzial gibt an, welche Menge an Gütern und Dienstleistungen in einer Volkswirtschaft ohne größere Verwerfungen produziert werden kann – unter Berücksichtigung der verfügbaren Technik in den Unternehmen und der Anzahl und Qualifikation der Beschäftigten.

Die Konjunkturentwicklung kann so auch als Schwankung des Auslastungsgrades einer Volkswirtschaft verstanden werden: Das, was für die Produktion in der Wirtschaft zur Verfügung steht (also beispielsweise die Arbeitskraft der Beschäftigten oder die vorhandenen Maschinen) wird nicht immer gleich stark beansprucht. Manchmal werden die Produktionskapazitäten unterbeansprucht – dann kommt es zu konjunkturell bedingter Arbeitslosigkeit und tendenziell fallender Inflation oder sogar Deflation. Und manchmal werden sie zeitweise überbeansprucht – dann erleben die Unternehmen einen Mangel an qualifizierten Arbeitnehmerinnen und es kommt zu kräftigeren Lohn- und Preissteigerungen. Die Überbeanspruchung oder Unterauslastung der Produktionskapazitäten wird in Schaubild 3 durch die Fläche zwischen roter und blauer Kurve dargestellt.

H5P-Element „Konjunkturverlauf“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Keynesianische vs. neoklassische Modelle

Doch wie lassen sich diese Schwankungen im Auslastungsrad eigentlich erklären? Hier setzen Konjunturtheorien an. Diese Theorien vertreten unterschiedliche Auffassungen dazu, was letztendlich der Auslöser für Konjunkurschwankungen ist.

Keynesianische Modelle begründen die Konjunkturzyklen mit der Instabilität des privaten Sektors. Demnach sind Schwankungen in der privaten Konsum- und Investitionsnachfrage und in den Nettoexporten (Exporte minus Importe) ursächlich für Konjunkturschwankungen. Diese beschreiben nach keynesianischer Auffassung nachfragebedingte Ungleichgewichte, welche die privaten Wirtschaftssubjekte davon abhalten, ihre Ziele hinsichtlich der Erzielung von Arbeitszeit, Einkommen, Konsum, Ersparnis usw. zu erreichen. Bei einer Unterauslastung der Wirtschaft auf Grund einer Nachfrageschwäche sollte die Zentralbank bzw. der Staat durch einen Mix aus Zinssenkungen, Steuersenkungen und höheren Ausgaben (sog. expansive Geld- und Fiskalpolitik) eingreifen, um die Nachfrage und die Beschäftigung zu stabilisieren. Bei einer Überhitzung der Nachfrage sollten umgekehrt Zinserhöhungen, Steuererhöhungen und Ausgabensenkungen durchgeführt werden.

Neoklassische Modelle sehen dagegen den Staat als Hauptverantwortlichen für das Auftreten von Konjunkturzyklen, während der Privatsektor aus ihrer Sicht eher zu Stabilität neigt. Die beobachteten Schwankungen im Bruttoinlandsprodukt und der Beschäftigung erklären einige neoklassische Modelle zum Teil damit, dass die Individuen sich je nach Situation (hohe oder niedrige Löhne oder Zinsen) rational entscheiden, mehr oder weniger zu arbeiten und zu produzieren. Eingriffe des Staates, um solche „gleichgewichtigen Konjunkturzyklen“, die auf der Angebotsseite der Volkswirtschaft entstehen, zu bekämpfen, sind aus dieser Sicht kontraproduktiv. Eine unsystematische Geld- und Fiskalpolitik führe vielmehr zu Unsicherheit und Anpassungsreaktionen der Marktteilnehmer, was Konjunkturschwankungen herbeiführe. Außerdem wird davon ausgegangen, dass die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger aufgrund von Wirkungsverzögerungen („Time-Lags“) und der Komplexität der Zusammenhänge die Wirtschaft nicht gut steuern können. Politische Maßnahmen, die eigentlich der Stabilisierung dienen sollen, kämen dadurch zu spät (wodurch sie genau das Gegenteil dessen bewirken können, was sie eigentlich erreichen wollten) oder seien grundsätzlich verkehrt, weil die Politik sich ein Wissen anmaße, über das sie gar nicht verfügen würde.

Kurzfristig die Nachfrage, langfristig das Angebot: Die Theorie der „Neuen neoklassischen Synthese“

Kaum eine Ökonomin würde heute allerdings die extreme Annahme treffen, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gar keine Rolle spielt. Und auch keynesianische Ökonominnen würden nicht argumentieren, dass sich das gesamtwirtschaftliche Angebot stets ohne Weiteres an die gesamtwirtschaftliche Nachfrage anpasst. Vielmehr steht in der modernen Makroökonomik das Zusammenspiel zwischen angebotsseitigem Produktionspotenzial und nachfrageseitigen Konjunkturschwankungen im Mittelpunkt der Analyse.

Zwischen Ökonominnen ist allerdings weiterhin sehr umstritten, ob eher neoklassischen oder eher keynesianischen Denkmustern eine dominante Rolle zukommen sollte. Im Rahmen der so genannten „Neuen Neoklassischen Synthese“, die zumindest bis zu den weltweiten Finanzkrisen seit 2008 innerhalb der Wirtschaftswissenschaften sehr verbreitet war, wird argumentiert, dass zwar kurzfristig keynesianische Prinzipien gelten, langfristig aber neoklassische. Es wird davon ausgegangen, dass Produktion und Arbeitsvolumen kurzfristig nachfrageseitig bzw. konjunkturell bedingt sind, während langfristig das Produktionspotenzial und die Situation auf dem Arbeitsmarkt angebotsseitig bzw. strukturell bestimmt werden. Das Produktionspotenzial gibt an, welche Menge an Gütern und Dienstleistungen nachhaltig produziert werden kann. Das bedeutet, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion zwar zeitweise sogar oberhalb des Produktionspotenzials liegen kann (Fall A), aber nicht auf Dauer. Andererseits ist es auch möglich, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion unterhalb des Produktionspotenzials liegt (Fall B).

Fall A: „Überhitzung“ der Wirtschaft

Wenn die Güternachfrage so kräftig ist, dass die Unternehmen oberhalb des Produktionspotenzials produzieren, liegt eine so genannte positive Output-Lücke vor (Schaubild 4). Dann steigt zwar zunächst das Arbeitsvolumen (die Arbeitslosigkeit fällt). Dies wird aber mittelfristig zu immer höherer Inflation führen.

Der Grund hierfür ist, dass bei geringer Arbeitslosigkeit die Arbeitnehmerinnen bzw. die Gewerkschaften höhere Löhne fordern werden, weil sie keine besondere Gefahr von Arbeitsplatzverlusten sehen und ihre Arbeit von den Unternehmen stark nachgefragt wird. Gleichzeitig werden die Unternehmen ihre Preise erhöhen, weil sie mit ihren Produktionskapazitäten die hohe Nachfrage nicht mehr bedienen können und ihre Gewinne nur noch durch höhere Preise steigern können und weil sie die höheren Lohnkosten ausgleichen wollen. Der Grund für diese inflationäre Lohn-Preis-Spirale besteht letztlich darin, dass Arbeitnehmerinnen bei geringer Arbeitslosigkeit höhere Reallöhne anstreben, und die Arbeitgeberinnen den Anstieg des Reallohns verhindern wollen.

Um diesen Mechanismus zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass der Reallohn nichts anderes ist als der Nominallohn im Verhältnis zum Preisniveau: Die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen steigt nur, wenn die Nominallöhne (d. h. die Löhne, die tatsächlich gezahlt werden) stärker steigen als die Preise der Güter, die die Arbeitnehmerinnen mit ihren Löhnen bezahlen müssen. Wenn die Arbeitnehmerinnen bzw. Gewerkschaften bei geringer Arbeitslosigkeit höhere Reallöhne fordern, die Unternehmen diese aber nicht zu zahlen bereit sind, kann es zu einer sogenannten Lohn-Preis-Spirale kommen, die einen ungelösten Verteilungskonflikt zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitgeberinnen um die Höhe der Reallöhne widerspiegelt: Die Spirale entsteht dadurch, dass die Arbeitnehmerinnen auf einen Anstieg der Preise (in Reaktion auf eine Erhöhung der Nominallöhne) wiederum mit höheren Lohnforderungen reagieren. So treiben die Löhne die Preise in die Höhe, welche wiederum die Löhne in die Höhe treiben.

H5P-Element „Eine inflationäre Lohn-Preis-Spirale“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Eine inflationäre Lohn-Preis-Spirale kann laut Neuer Neoklassischer Synthese nur gebrochen werden, indem die Güternachfrage durch staatliche Politik reduziert wird (geringere Staatsausgaben, höhere Steuern oder höhere Zentralbank-Zinsen). Die Geldpolitik sollte nach Empfehlung der Neuen Neoklassischen Synthese von politikunabhängigen Experten der Zentralbank bestimmt werden. Die meisten modernen Zentralbanken verfolgen ein sogenanntes Inflationsziel: Die Europäische Zentralbank beispielsweise peilt eine mittelfristige Inflationsrate von zwei Prozent an.

Für die Fiskalpolitik (Staatseinnahmen und –ausgaben) spielen aus Sicht der Neuen Neoklassischen Synthese die sogenannten automatischen Stabilisatoren eine wichtige Rolle, welche in modernen Volkswirtschaften durch die Funktionsweise des Steuersystems und der sozialen Sicherung stark ausgeprägt sind. Im hier betrachteten Fall einer kräftigen privaten Nachfrageentwicklung steigen aus einer Reihe von Gründen die Einnahmen des Staates automatisch stark an: Beispielsweise zahlen Beschäftigte, die früher arbeitslos oder geringfügig beschäftigt waren und nun mehr verdienen, nun Einkommensteuern, und Haushalte mit Einkommenssteigerungen zahlen höhere Steuersätze (progressive Einkommensteuer). Gleichzeitig fallen die staatlichen Ausgaben etwa für Arbeitslosenunterstützung. Im Ergebnis kommt es zu einer konjunkturbedingten Verbesserung des staatlichen Budgetsaldos (geringeres Haushaltsdefizit oder höherer Haushaltsüberschuss). Durch die Wirkung der automatischen Stabilisatoren und entsprechende Zinserhöhungen sollte der Staat in der Lage sein, einer Überhitzung der privaten Nachfrage entgegen zu wirken.

Wenn der Staat nicht entsprechend reagiert, kommt es schlimmstenfalls zur Hyperinflation und damit zur vollständigen Zerstörung des Geldsystems. Denn wenn die Preise sehr rasant steigen, ist es für die wirtschaftlichen Akteure kaum noch möglich, sinnvolle Kauf- und Sparentscheidungen zu treffen, weil ihre Einkommen durch die Hyperinflation praktisch sofort entwertet werden. Unter anderem aus diesem Grund gilt in den meisten entwickelten Volkswirtschaften eine stabile Inflationsrate als wichtiges wirtschaftspolitisches Ziel.

Fall B: Nachfragemangel

Bei einem Nachfragemangel hingegen ist die Output-Lücke negativ (Schaubild 4). Dann steigt die Arbeitslosigkeit, und es kommt mittelfristig zu deflationären Lohn-Preis-Spiralen: Die Arbeitnehmer nehmen aus Angst vor noch höherer Arbeitslosigkeit ein geringeres Lohnwachstum oder sogar Lohnkürzungen in Kauf. Die Unternehmen senken die Preise aus Angst vor weiterem Nachfragerückgang und um volle Lager mit unverkauften Gütern zu vermeiden. Wenn aber die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften feststellen, dass sich wegen fallender Inflation oder sogar Deflation ihre Kaufkraft verbessert, bewegt sie dies in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit umso mehr zu zurückhaltenden Lohnforderungen.

H5P-Element „Eine deflationäre Lohn-Preis-Spirale“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Diese Abwärtsspirale kann nur gebrochen werden, indem der Staat für eine höhere Nachfrage sorgt (höhere Staatsausgaben, niedrigere Steuern, niedrigere Zentralbank-Zinsen). Aus Sicht der Neuen Neoklassischen Synthese sollte auch im Abschwung die Stabilisierung der Konjunktur vor allem von der Geldpolitik (Zinssenkungen) ausgehen. Auch in dieser Situation wirken die automatischen Stabilisatoren der Fiskalpolitik, aber jetzt in die andere Richtung (z. B. automatischer Anstieg der Arbeitslosenunterstützung und Rückgang der Einnahmen aus der Einkommensteuer bei Anstieg der Arbeitslosigkeit und Rückgang der Haushaltseinkommen) . Durch die Wirkung der automatischen Stabilisatoren kommt es zu einem konjunkturbedingten Anstieg des staatlichen Haushaltsdefizits. Allerdings können in einer Krise zusätzliche fiskalpolitische Maßnahmen („Konjunkturpakete“) notwendig werden, wenn die Zentralbank die Zinsen bereits auf Null gesenkt hat, die automatischen Stabilisatoren bereits voll wirken und die Output-Lücke trotzdem negativ bleibt. Der Grund, dass eine solche sogenannte „diskretionären Fiskalpolitik“ vor allem in Krisenzeiten, und nicht im Boom, gefordert wird, ist, dass die Zentralbank die Zinsen zwar beliebig erhöhen kann, um die private Nachfrage zu dämpfen, aber negative Zinsen in der Praxis nicht möglich sind (sogenannte Nullzinsfalle oder Liquiditätsfalle).

Reagiert der Staat auf den privaten Nachfragemangel nicht, fallen Preise und Löhne immer weiter, so dass Unternehmen und Haushalte ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen können, es vermehrt zu Bankrotten kommt und die Wirtschaft früher oder später in eine Depression gerät.

Arbeitslosigkeit und staatliche Haushaltsdefizite bei geschlossener Output-Lücke?

Langfristig kommt es nur dann zu einer Stabilisierung der Inflation, wenn die Güternachfrage dem Produktionspotenzial entspricht, d. h. die Output-Lücke geschlossen, also gleich Null, ist. Dann ist auch der Arbeitsmarkt im Gleichgewicht. Dies bedeutet nicht, dass es keine Arbeitslosigkeit gibt. Vielmehr wird die Arbeitslosigkeit, die nicht durch eine höhere Güternachfrage beseitigt werden kann, ohne dass hierdurch Lohn-Preis-Spiralen ausgelöst werden, als strukturelle Arbeitslosigkeit bezeichnet. Wenn diese strukturelle Arbeitslosigkeit gesenkt werden soll, sind nach Sicht der Neuen Neoklassischen Synthese so genannte Angebotsreformen nach neoklassischen Prinzipien (Deregulierung des Arbeitsmarkts, Schwächung der Gewerkschaften, Senkung der Arbeitslosenunterstützung zur Steigerung von Arbeitsanreizen) zu empfehlen.

Analog gilt für staatliche Haushaltsdefizite, die trotz geschlossener Output-Lücke verbleiben, dass sie aus Sicht der Neuen Neoklassischen Synthese als strukturell einzuschätzen sind. Will der Staat sein strukturelles Haushaltsdefizit reduzieren, muss er seine Einnahmen dauerhaft erhöhen und/oder seine Ausgaben dauerhaft senken.

Aus den Überlegungen oben ergeben sich somit die vier Phasen eines idealtypischen Konjunkturzyklus im Sinne der „neuen neoklassischen Synthese“, die in Schaubild 4 zu sehen sind. In Schaubild 6 kannst du überprüfen, ob du dich mit den verschiedenen Phasen des Konjunkturzyklus auskennst.

Der Text „Nachfrage, Angebot oder beides? Neoklassik, Keynesianismus und ihre Synthese“ von Julian Becker, Till van Treeck ist lizenziert unter CC BY 4.0.

H5P-Element: „Konjunkturverlauf“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Course Presentation“ steht unter einer MIT-Lizenz.

H5P-Element: „Eine inflationäre Lohn-Preis-Spirale“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Drag and Drop“ steht unter einer MIT-Lizenz.

H5P-Element: „Eine deflationäre Lohn-Preis-Spirale“ Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Drag and Drop“ steht unter einer MIT-Lizenz.