Während die meisten Wirtschaftsforscherinnen den Verlauf der Banken- und Finanzkrise ähnlich beschreiben würden, haben sie verschiedene Ansichten dazu, welche tieferliegenden Ursachen für ihre Entstehung verantwortlich sind. Der folgende Lernabschnitt konzentriert sich auf Argumente, die insbesondere die staatliche Verantwortung betonen. Solche ordnungspolitischen Argumente sind oft von der Denkschule des Ordoliberalismus beeinflusst.

#Ordoliberalismus

Lockere Geldpolitik und falsche Anreize: Wieso es zur Verschuldungsdynamik in den USA kam

„Historisch betrachtet spielt seit dem New Deal der 1930er-Jahre, als die Vereinigten Staaten versuchten, sich durch Kreditvergabe und Kreditgarantien staatlicher Institutionen aus der damals herrschenden Weltwirtschaftskrise zu befreien, der Wohnungsmarkt eine zentrale Rolle. Neben dem generösen steuerlichen Schuldzinsenabzug [ = der Möglichkeit, zu zahlenden Zinsen von der Steuer abzusetzen] tritt in den Vereinigten Staaten noch eine staatliche Kreditrisikoübernahme in Höhe von fast 50 Prozent der Finanzierungen hinzu. Aus dieser Gegebenheit ergibt sich unweigerlich, dass die Abhängigkeit von Krediten im internationalen Vergleich insbesondere bei den Haushalten sehr ausgeprägt ist. Daraus folgten für die Vereinigten Staaten ein sehr hohes Verschuldungsniveau und äußerst geringe Sparquoten. Während die privaten Haushalte bereits seit Mitte der 1990er-Jahre immer weniger sparten (im Jahr 2006 legten sie nahezu gar nichts mehr zur Seite), stieg ihre Neuverschuldung gemessen am verfügbaren Einkommen im gleichen Zeitraum von sechs auf zwölf Prozent. Mit anderen Worten, die staatliche Anreizpolitik hat in den Vereinigten Staaten die Verschuldungsbereitschaft der amerikanischen Haushalte seit langem genährt.

Im jüngsten Kreditmarktzyklus der Jahre von 2000 bis 2006 erlebten die Vereinigten Staaten zudem eine persistente und besonders fulminante Kreditdynamik, welche sich auch in einer starken Geldmengendynamik niederschlug. So nahm die Geldmenge seit dem Jahr 1995 in den sechzehn wichtigsten OECD-Ländern um ca. ein Drittel zu. Zudem wurde diese Entwicklung durch die seit Jahren staatlich geduldete ‚laxe‘ Regulierungspolitik im Bereich der Kredit- und Kapitalmärkte gestützt.

Zu dieser Dynamik trug auch die Niedrigzinspolitik der amerikanischen Zentralbank (Federal Reserve) bei. Diese hat den Leitzins für die vereinigten Staaten im Zuge der Terroranschläge am 11. September 2001 und nach dem Platzen der ‚New-Economy-Blase‘ massiv abgesenkt. Dabei lag der US-amerikanische Leitzins, die sogenannte Federal Funds Rate, zeitweise auf dem historischen Tiefstand von einem Prozent. Diese expansive Geldpolitik sollte insbesondere das Wirtschaftswachstum stimulieren und dazu beitragen, die negativen Schocks beim Platzen der New-Economy-Blase und der Terroranschläge zu überwinden.

Wird die damalige Inflationsrate berücksichtigt, so war der Zinssatz sogar zeitweise negativ. Das bedeutet, die Banken erhielten eine Prämie, wenn sie sich verschuldeten. […] In einfachen Worten: die Zinsen waren zu lange viel zu niedrig. Damit waren in den Vereinigten Staaten Kredite sehr billig verfügbar, in einem Land, in dem die Haushalte traditionell ohnehin eine sehr hohe Verschuldungsbereitschaft aufweisen. Mit diesem billigen Kreditgeld haben sich dann sehr viele US-amerikanische Haushalte den Traum eines oder gleich mehrerer Eigenheime erfüllt. Die daraus resultierende große Nachfrage nach Immobilien sorgte für einen ungewöhnlich starken Anstieg der Immobilienpreise. Der steigende Wert ihrer Immobilien bot den Hausbesitzern die Möglichkeit zum Abschluss neuer, günstiger Kreditverträge. Darüber hinaus lockten Spekulationsmotive viele Amerikaner zum Kauf eines zweiten oder gar dritten Hauses, um dieses mit gestiegenem Wert später wieder zu veräußern. Aufgrund des stetig steigenden Wertes fühlten sich die Hauseigentümer immer reicher und setzten das in zusätzlichem Konsum um.“

Schuldenstand der privaten Haushalte und Nonprofit-Institutionen in Prozent des verfügbaren Nettoeinkommens in Deutschland und den USA, 1999–2021

Schuldenstand der privaten Haushalte und Nonprofit-Institutionen in Prozent des verfügbaren Nettoeinkommens in Deutschland und den USA, 1999–2021 von Julian Becker, CC BY 4.0. Quelle der Daten: OECD.Stat.

Effektiver Leitzins (Effective Federal Funds Rate) in den USA, 1954–2024

Effektiver Leitzins (Effective Federal Funds Rate) in den USA, 1954–2024 von Julian Becker, CC BY 4.0. Quelle der Daten: Board of Governors of the Federal Reserve System (US), fred.stlouisfed.org.

Hinweis: Der effektive Leitzins (Effective Federal Funds Rate) ist der Zinssatz, zu dem sich Banken in den USA ihre Zentralbankguthaben bei der Federal Reserve (der US-Zentralbank) kurzfristig leihen. Dieser Zinssatz bildet sich also zwischen den Banken. Dabei versucht jedoch die Zentralbank, diesen Zinssatz so zu beeinflussen, dass sie das von ihr gesteckte Leitzinsziel erreicht. Dies wird zum Beispiel durch sogenannte Offenmarktgeschäfte oder den Kauf/Verkauf von Staatsanleihen erreicht. Der Leitzins beeinflusst vielen andere Zinssätze. Indem sie den Leitzins steuert, versucht auf die Federal Reserve ihrem Doppelmandat aus Preisniveaustabilität und niedriger Arbeitslosigkeit gerecht zu werden. Mehr zu den Zielen und Instrumenten der Geldpolitik erfährst du in Kapitel 4.

Wer profitiert, muss auch haften? Die Verletzung des Haftungsprinzips

Neben dem Aspekt der Geldpolitik und den falschen Anreizen bezüglich der Überschuldung der privaten Haushalte in den USA betonen manche Wirtschaftsforscherinnen außerdem den Aspekt der Haftung im Zusammenhang mit der Krise: Die Übernahme der Verantwortung für eigene ökonomische Entscheidungen – im positiven, wenn Gewinne eingefahren werden können, im negativen, wenn Verluste entstehen – ist für sie ein grundlegendes Prinzip für eine funktionierende Marktwirtschaft. Es liegt aus ihrer Sicht in der Verantwortung des Staates, hier klare Spielregeln zu setzen, die ein Funktionieren des Haftungsprinzips gewährleisten. Darauf geht der folgende Text ein:

„Was das Haftungsprinzip betrifft, so galt für die Ordoliberalen der Grundsatz: ‚Wer den Nutzen hat, muß auch den Schaden tragen.‘[…] Die Haftung wurde eindeutig und streng gefasst: ‚Wer für Pläne und Handlungen der Unternehmen (Betrieb) und Haushalte verantwortlich ist, haftet (Haftungsprinzip).‘ Die Ordoliberalen hatten vor allem die Lenkungsfunktion der Haftung im Auge. Nach Eucken hat sie drei konkrete Aufgaben: Die Selektion von rentablen Unternehmen und fähigen Personen, die Erschwerung der Unternehmenskonzentration und die sorgsame Allokation des Kapitals. […]

Für die Bewertung der aktuellen Finanzmarktkrise ist dieser Aspekt sehr wichtig. Wenn sich beispielsweise Hypothekenbanken bei der Kreditvergabe durch die Verbriefung der Forderungen der Haftung zum größten Teil entziehen können […], besteht für sie ein Anreiz, ihre Kreditvergabe auszudehnen. Dies kann wie im Fall des U.S. Immobilienmarktes zu einer Kreditblase führen, solange Anleger bereit sind, diese Verbriefungen zu erwerben. Zwar geht die Haftung dabei nicht verloren, sondern auf die Anleger über. Die Komplexität der auf diese Weise entstehenden Kreditketten impliziert jedoch Informationsasymmetrien [= ungleiche Verteilung von Information], Entscheidungsfunktion und Haftungsfunktion fallen dadurch immer weiter auseinander. Offenbar waren im Vorfeld der aktuellen Finanzkrise weder Anleger noch Banken, ja nicht einmal die Ratingagenturen und Aufsichtsbehörden in der Lage, die Risiken richtig zu bewerten. Nur so konnte es zu dem kollektiven Ponzi-Spiel […] kommen, bei dem die zweistelligen Renditen letztlich nicht real erwirtschaftet, sondern durch immer neue Liquiditätsschaffung generiert wurden.[…]

Neben der Haftung der Banken als Institution muss auch die Frage nach der Haftung im Innenverhältnis gestellt werden. […] [Es] müssen Vorkehrungen dafür getroffen werden, dass angestellte Manager tatsächlich das Wohl des Unternehmens (und nicht nur ihr eigenes) im Auge haben. Spätestens dann, wenn der Konkurs eines Unternehmens auch gesamtwirtschaftlich relevante Auswirkungen hat, wird die Gewährleistung dieses Prinzips auch zu einer Aufgabe des Staates.

Bisher wurde vielfach die Meinung vertreten, Manager seien eher risikoscheuer als die Kapitaleigner, da ihr Arbeitsplatz an das Unternehmen gebunden ist und sie insoweit mit ihrem zukünftigen Lohn haften. Daher seien die Anreize durch eine variable Vergütungsstruktur so zu setzen, dass die Vorstände risikofreudiger werden und es somit zu einer Angleichung an die Risikoneigung der Kapitaleigner kommt.[…] Dabei wird aber zu wenig beachtet, dass der Manager je nach Situation auf dem Arbeitsmarkt durchaus bald eine neue Stelle finden kann. […] Zudem ist auch zu hinterfragen, ob die Entlassungsdrohung für die Spitzenverdiener unter den Managern überhaupt eine wirksame Sanktion darstellt. Insbesondere ältere Vorstände, die praktisch ‚ausgesorgt‘ haben, müssen eigentlich wenig befürchten, zumal wenn sie überdies noch hohe Abfindungen erhalten. […]

Die Ordoliberalen waren auch hier ihrer Zeit weit voraus, indem etwa Eucken die Haftung der Vorstände fordert – jedenfalls soweit diese von den Aktionären weitgehend unabhängig agieren können. […] Die Erfahrungen der Finanzkrise zeigen, dass eine solche Managerhaftung in Publikumsgesellschaften auch heute noch bedenkenswert ist.“

Gekürzter Ausschnitt aus: Cordelius Ilgmann, Ulrich van Suntum: Ist die Finanzkrise eine Krise der Marktwirtschaft?, in: Wirtschaftsdienst 11/2008, S. 741-745CC BY 4.0. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts.

Der Ausschnitt aus dem Text „Die Finanzmarktkrise. Ursachen, Lehren und Lösungsansätze“ in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.): Lehren aus der Finanzmarktkrise. Ein Comeback der sozialen Marktwirtschaft, Band 1: Ordnungspolitische und sozialethische Perspektiven, St. Augustin/Berlin 2008. von Bodo Herzog ist lizenziert unter CC BY 4.0.

Der Ausschnitt aus dem Text „Ist die Finanzkrise eine Krise der Marktwirtschaft?“, in: Wirtschaftsdienst 11/2008, S. 741-745 von Cordelius Ilgmann, Ulrich van Suntum ist lizenziert unter CC BY 4.0.

Die Abbildung „Schuldenstand der privaten Haushalte und Nonprofit-Institutionen in Prozent des verfügbaren Nettoeinkommens in Deutschland und den USA, 1999–2021“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: OECD.Stat.

Die Abbildung „Effektiver Leitzins (Effective Federal Funds Rate) in den USA, 1954–2024“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: Board of Governors of the Federal Reserve System (US), fred.stlouisfed.org.