In den vorherigen Lernabschnitten hast du gesehen, dass Preisniveaustabilität das vorrangige Ziel der EZB ist und wie man die Veränderung des Preisniveaus messen kann. Doch warum sind Deflation und Inflation überhaupt problematisch?

Versetzen wir uns zunächst in die Rolle einer Arbeitnehmerin: Entscheidend für ihre Kaufkraft (wie viel sie sich also von ihrem monatlichen Lohn kaufen kann), ist auf den ersten Blick die Höhe ihres tatsächlich ausgezahlten Einkommens, das man auch Nominaleinkommen nennt. Steigt ihr Einkommen, steigt auch das, was sie sich leisten kann. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn es kommt auch auf die Höhe des Preisniveaus in der Volkswirtschaft an. Setzt man das nominale Einkommen ins Verhältnis zum Preisniveau, kann man das Realeinkommen ermitteln. Das Realeinkommen gibt Auskunft über die tatsächliche Kaufkraft.

Realeinkommen = \(\frac{\text{Einkommen}}{\text{Preisniveau}}\)

Die folgende Geogebra-Anwendung verdeutlicht das. In der Ausgangssituation hast du hier ein Einkommen von 100 € und kannst damit deinen Einkaufswagen befüllen. Probiere aus, welche Effekte es hat, wenn du die Höhe von Nominaleinkommen und Preisniveau veränderst.

Du erkennst hier: Entscheidend dafür, wie voll man den Einkaufswagen packen kann, ist letztendlich das Realeinkommen, nicht das Nominaleinkommen. Deshalb spielt die Entwicklung der Inflation (also die Veränderung des Preisniveaus) z. B. auch bei Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberinnen eine wichtige Rolle. Die Gewerkschaften werden versuchen, bei drohender Inflation höhere Lohnforderungen durchzusetzen, um den Kaufkraftverlust auszugleichen. Wir könnten nun zunächst versucht sein zu argumentieren, dass Veränderungen des Preisniveaus so lange keine Rolle spielen, wie das Monatsgehalt mit der gleichen Rate wächst oder fällt, so dass Reallohn und somit Kaufkraft unverändert bleibt – siehe die Anwendung oben. So einfach ist es jedoch nicht.

Störung der Funktion von Märkten und Vertrauensverlust

Bei schnellen Preisänderungen verlieren Verbraucherinnen (und Unternehmen) leicht den Überblick darüber, wie teuer einzelne Güter im Vergleich zu anderen sind. Wenn wir beispielsweise in Zeiten hoher Inflation beim Einkaufen mal wieder feststellen, dass der Preis für Lebensmittel in einem Geschäft deutlich gestiegen ist, können wir kaum wissen, ob es sich hierbei um „normale“ Preiserhöhungen handelt, die wir einfach akzeptieren müssen, weil alle Preise steigen, oder um besonders starke Preiserhöhungen, die wir umgehen können, wenn wir zum Einkaufen in ein anderes Geschäft gehen. Wirtschaftsforscherinnen sprechen daher davon, dass hohe Inflationsraten dazu führen, dass die Allokationsfunktion von Märkten beeinträchtigt wird. Das bedeutet u. a., dass die Konkurrenz zwischen verschiedenen Anbieterinnen gestört wird, wenn die Kunden nicht mehr so einfach zwischen günstigen und überteuerten Angeboten unterscheiden können. Hohe und steigende Inflationsraten können außerdem das Vertrauen der Bevölkerung in die eigene Währung erschüttern und eine Flucht in andere Währungen oder Sachwerte (z. B. Immobilien, Edelmetalle) auslösen.

Unkontrollierte Umverteilung

Ein zweiter Grund, warum Inflation und Deflation problematisch sind, ist, dass sie Auswirkungen auf den realen Wert von Vermögen und Schulden haben und so Umverteilungseffekte mit sich bringen.

Stell dir dazu vor, dass du einen Kredit in Höhe von 100.000 Euro aufgenommen hast und dass dein Jahreseinkommen bisher 50.000 Euro betragen hat. Mit der Bank hast du einen Zinssatz von 5 Prozent pro Jahr vereinbart, d. h. du musst pro Jahr 5.000 Euro Zinsen zahlen. Wenn nun aber eine Deflation von, sagen wir, 5 Prozent pro Jahr einsetzt (was zugegebenermaßen ein sehr drastischer Wert wäre), wird auch dein Einkommen um ungefähr 5 Prozent pro Jahr fallen. Das liegt daran, dass bei sinkenden Preisen die Unternehmen ihre Kosten reduzieren müssen und auch die Gewerkschaften eher bereit sind, auf hohe Lohnforderungen zu verzichten. Deine Kaufkraft für Güter und Dienstleistungen bleibt dann zwar gleich (dein Realeinkommen bleibt schließlich unverändert). Aber deine Verschuldung steigt im Verhältnis zu deinem Einkommen, weil die Schulden ja unverändert bleiben, während dein Einkommen sinkt.

Gleichzeitig kommt es zu einem Anstieg des Realzinses, der den realen Preis deines Kredites ausdrückt. Damit ist gemeint: Wenn ich einen Kredit aufnehme, habe ich nominale Kosten in Höhe der Zinsen, die bei Abschluss des Kreditvertrags vereinbart werden. Die tatsächlichen (=realen) Kosten können sich aber in Abhängigkeit der Entwicklung des Geldwertes verändern: Wenn die Preise fallen (also der Wert des Geldes zwischenzeitlich steigt), steigen auch deine realen Kosten (sozusagen deine Kosten in Gütereinheiten gemessen), weil du dir vom selben Geldbetrag nun mehr kaufen könntest als zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Um die Zinsen des Kredits zu begleichen, musst du also auf mehr Waren oder Dienstleistungen verzichten als vor dem Preisrückgang.

Realzins NominalzinsInflation

Umgekehrt würden bei einer Inflation der Realzins und damit die realen Kosten deiner Verschuldung sinken, was wiederum für deine Gläubigerin problematisch sein könnte: Die Zinseinnahmen, die sie sich durch die Kreditvergabe erhofft hat, können aufgrund der Geldentwertung real betrachtet (d. h. in Gütereinheiten gemessen) geringer ausfallen als ursprünglich erwartet. Im selben Zeitraum, in dem sie auf seine Zinszahlung wartet, ist deren Wert geringer geworden.

Somit sind Inflation und Deflation also nicht nur für Verbraucherinnen relevant, sondern auch für Schuldnerinnen und Gläubigerinnen. Zudem sind auch die Eigentümerinnen unterschiedlicher Vermögensarten (z. B. Geldvermögen oder Immobilienvermögen) unterschiedlich von Veränderungen des Preisniveaus betroffen.

Deflation und Verschuldung

Die Geogebra-Anwendung unte  illustriert noch einmal beispielhaft, wieso Deflation ein Problem für verschuldete Haushalte (und Unternehmen) sein kann:

Stell dir vor, du nimmst im Jahr 0 einen Kredit von 100.000 Euro auf (zum Beispiel zur Finanzierung einer Wohnung). Der Kreditvertrag sieht vor, dass du in den ersten fünf Jahren keine Tilgungen vornimmst, sondern lediglich Zinsen in Höhe von 5 Prozent zahlst. Dein Einkommen in diesem Jahr beträgt 50.000 Euro.

In den folgenden fünf Jahren herrscht eine Deflation von 5 Prozent pro Jahr, d. h. die Preise der Güter, die du kaufst, fallen um durchschnittlich fünf Prozent. Deine Gewerkschaft akzeptiert daher in jedem Jahr geringere Nominallöhne (um eine Insolvenz des Unternehmens zu verhindern), und dein Nominaleinkommen fällt daher ebenfalls um fünf Prozent pro Jahr.

GeoGebra-Element: „Deflation und Verschuldung“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of Use“ im H5P-Element und am Ende des Lernabschnitts.

Versuche, in der Anwendung die fehlenden Werte (mit einem „?“ markiert) zu ergänzen.

  1. Wie hoch ist das Realeinkommen in den Jahren 1-5 (Zeile 6)?
  2. Wie entwickelt sich die Schuldenquote (Verschuldung/Einkommen) in den Jahren 1-5 (Zeile 7)?
  3. Wie entwickelt sich die Zinslastquote (Zinszahlungen/Einkommen) in den Jahren 1-5 (Zeile 8)?
  4. Wie hoch sind die Realzinsen in den Jahren 1-5 (Zeile 9)?

Du kannst die Berechnung direkt im Tabellenblatt vornehmen. Nutze dafür die Formel-Funktion: Wenn Du zum Beispiel Zelle „C2“ durch Zelle „C3“ dividieren möchtest, kannst Du in eine leere Zelle eingeben: „= C2 / C3“. Die korrekten Lösungen zu Frage 2 und 3 können in der Anwendung angezeigt werden, die gesamte Lösung kann hier heruntergeladen werden.

Die Anwendung zeigt: „Bei Deflation fallen […] die Preise der Güter und Dienstleistungen, welche die privaten Haushalte bezahlen müssen. Insofern ist es verkraftbar, wenn die nominalen Einkommen ebenfalls fallen. Jedoch bleiben die Schulden, die Haushalte in der Vergangenheit aufgenommen haben, unverändert hoch. Durch Deflation wird daher die Belastung der Haushalte durch den Schuldendienst (Tilgung und Zinszahlungen) größer.“1 Hohe Inflation oder Deflation führen also zu einer unkontrollierten Umverteilung zwischen Gläubigern und Schuldnern.

Auch darüber hinaus treffen Inflation und Deflation verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark: Wer zum Beispiel seine Ersparnisse in Bargeld, Sparguthaben oder festverzinslichen Wertpapieren (wie Staatsanleihen) angelegt hat, dessen Ersparnisse verlieren in Zeiten hoher Inflation an Wert. Wer hingegen Sachvermögen (z. B. Grundstücke, Gebäude, Aktien etc.) besitzt, der ist oft weniger stark betroffen.

Aus diesen Gründen versucht die Geldpolitik, die Preisniveauentwicklung möglichst stabil zu halten und hat sich eine Zielmarke von mittelfristig 2 % gesetzt, wobei dieses Ziel „symmetrisch“ ist. Das heißt, das zu hohe Inflationsraten ebenso wenig erwünscht sind, wie zu niedrige.

1Die gekennzeichneten Textstelle ist ein Ausschnitt aus: Till van Treeck für bpb.de: „Lösungsvorschläge für Arbeitsblatt 10: Droht der Eurozone die Gefahr einer Deflation?“CC BY-NC-SA 4.0.

Der Text im Lernabschnitt „Was sind Folgen von Inflation und Deflation?“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0. Er enthält einen Textausschnitt aus: „Lösungsvorschläge für Arbeitsblatt 10: Droht der Eurozone die Gefahr einer Deflation?“ von Till van Treeck für bpb.de, lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0.

GeoGebra-Element „Nominal- und Realeinkommen“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY-SA 3.0. Bitte beachten Sie außerdem die GeoGebra Lizenz.

GeoGebra-Element „Deflation und Verschuldung“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY-SA 3.0. Bitte beachten Sie außerdem die GeoGebra Lizenz. Der H5P-Inhaltstyp „Iframe Embedder“ steht unter einer MIT-Lizenz.