Bearbeiteter Screenshot aus dem Video „Was ist Geld“ von HOOU@UHH, CC BY 4.0, via youtube.com.

Wenn man wissen möchte, was in einer Volkswirtschaft so los ist, ist ein Blick auf die Finanzierungssalden oft aufschlussreich. Konnte der Privatsektor Ersparnisse bilden, wie er es normalerweise möchte (z. B. um für das Alter vorzusorgen)? Haben die Unternehmen Kredite aufgenommen, um so ihre Investitionen zu finanzieren? Ist das Ausland stark gegenüber dem Inland verschuldet? Und was hat der Staat gemacht? Hier haben sich seit dem Beginn der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik einige Veränderungen ergeben.

#„In the long run …“

Stärker disaggregierte Finanzierungssalden in Deutschland und Finanzierungssaldo der Unternehmenssektoren, international

H5P-Element „Stärker disaggregierte Finanzierungssalden in Deutschland und Finanzierungssaldo der Unternehmenssektoren, international“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Oben in der H5P-Anwendung findest du eine Abbildung zu jedem der Jahrzehnte, die hier besprochen werden:

  • „Von 1950 bis 1959 waren die Unternehmen im Durchschnitt um etwas mehr als 6 % [des BIP] verschuldet . Die Außenhandelsüberschüsse lagen bei etwa 2 % und Staat und private Haushalte konnten so einen Einnahmeüberschuss erzielen. In 1953 kam es zum Schuldenerlass aufgrund des Londoner Abkommens, was einem Transfer vom Ausland zum Staatssektor gleichkommt. […]
  • Von 1960 bis 1969 waren die Budgetsalden von Staat und Ausland relativ ausgeglichen. Die Verschuldung des Unternehmenssektors ermöglichte die Vermögensbildung im Privatsektor: Die Investitionen erzeugten Einkommen, aus dem der Privatsektor Ersparnisse (im Sinne von Geldvermögen) bilden konnte. Die Verschuldung des Unternehmenssektors, die zu enormen Investitionen führte, kann man wohl als eine wesentliche Ursache des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit bezeichnen.
  • In den Jahren von 1970 bis 1979 begann diese Voraussetzung dann zu verschwinden. Nach der ersten Ölpreiskrise in 1973 geriet die Weltwirtschaft in eine tiefe Rezession und die Unternehmen reduzierten ihre Nettoverschuldung. Der Staat glich in dieser Phase die Geldvermögensbildung der privaten Haushalte über eine Neuverschuldung aus.
  • Von 1980 bis 1989 verschlechterte sich dieses Bild noch weiter und die Unternehmen wurden für einige Jahre sogar zu Nettosparern. Durch die Außenhandelsüberschüsse dieser Zeit übernahm das Ausland zu einem größeren Teil die Schuldnerrolle.
  • Die Zeit von 1990 bis 1999 war von der Wiedervereinigung geprägt. Staat und Unternehmen verschuldeten sich und investierten in die neuen Bundesländer. In 1995 wurde die Treuhandanstalt aufgelöst und es kam zu einem Privatisierungsverlust von 200 Mrd. DM, was einen Transfer vom Staats- zum Unternehmenssektor bedeutet.[…]
  • In den Jahren von 2000 bis 2009 wurden die deutschen Unternehmen dann endgültig zu Nettosparern. Dies könnte damit zusammenhängen, dass nach Platzen der New-Economy Blase in 2001 die Bilanzen vieler deutscher Unternehmen in die Schieflage geraten waren. Viele Vermögenswerte verloren gleichzeitig an Wert und bei sofortiger Wertkorrektur wären einige Unternehmen vermutlich insolvent gewesen. Daher haben diese Unternehmen angefangen, Überschüsse zu bilden und Kredite zurückzuzahlen, um der Überschuldung zu entkommen.[…] Der Staat begann zudem seine Neuverschuldung zu reduzieren, was nur möglich war, weil die immer größer werdenden Exportüberschüsse das Ausland zu einem immer größeren Schuldner machten.
  • In der Zeit nach 2010 änderte sich an dem Verhalten des deutschen Unternehmenssektors wenig. Da die Exportüberschüsse jedoch weiter anwuchsen, war es in den letzten Jahren sogar möglich, dass alle inländischen Sektoren netto Geldvermögen bilden konnten (zu Lasten des Auslandes).

Unternehmen als Nettosparer sind ein Phänomen, dass man seit den 1980ern in vielen Industrienationen regelmäßig antrifft und häufig den Staat zu dem letzten verfügbaren Schuldner macht. […]. Spätestens seit der Finanzkrise in 2007/08 sind global in nahezu allen Industrienationen die Unternehmen zu Nettosparern geworden. Der taiwanesische Ökonom und Finanzmarktanalyst Richard Koo sieht den Grund für diese Entwicklung in einer globalen Bilanzrezession, welche die Unternehmen dazu zwingt, Einnahmeüberschüsse zu bilden, um die eigene Verschuldung abzubauen […]. Koo erhielt viel Aufmerksamkeit für seine Bilanzrezessionsthese, die er zunächst zur Erklärung der langen Rezessionsphase in Japan entwickelte.

Andere Ökonomen sehen seit den 1980ern einen allgemeinen Trend zu einer größeren Bedeutung des Finanzsektors, den sie als „Finanzialisierung“ bezeichnen. Grob vereinfacht könnte man sagen, dass der Shareholdervalue-Kapitalismus, der in den 1980er Jahren in den USA und Großbritannien seinen Ursprung hatte, Unternehmen dazu anhält, sich primär an der Bewertung am Aktienmarkt zu orientieren. Dies hat dazu beigetragen, dass der kurzfristige Cash-Flow einer Firma wichtiger wurde als langfristige Investitionen. Man spricht daher auch von ,Profiten ohne Investitionen‘, einem Phänomen, dass vor den 1980ern kaum aufgetreten ist. Zudem beginnen auch Firmen außerhalb der eigentlichen Finanzindustrie, ein Geschäft mit der Vergabe von Krediten zu machen. Ein beliebtes Beispiel, welches die zunehmende Bedeutung finanzieller Transaktionen auf den Punkt bringt, ist die Tatsache, „dass sowohl General Motors als auch Ford im 2. Quartal 2004 höhere Einnahmen durch Konsumenten- und Hypothekenkredite sowie Leasinggebühren erzielt haben als durch den Verkauf von Autos.“ (van Treeck et al. (2007, S. 34))

Die realwirtschaftliche Produktion verliert durch den Finanzsektor zunehmend an Bedeutung und es wird immer mehr Geldvermögen gebildet, aber zu wenig Sachvermögen (zu geringe Investitionen). Dies würde auch einen Teil der sehr schwachen Produktivitätsentwicklung in nahezu allen Industrienationen seit den 1980ern erklären.“

Ausschnitt aus dem Text: Dr. Michael Paetz: „Gesamtwirtschaftliche Buchhaltung: Finanzierungssalden“, in: ders.: Was-ist-geld.de. Ein Projekt der HOOU@UHH, CC BY-NC 4.0.

Der Text im Lernabschnitt „,In the long run …‘ Überschüsse und Defizite in den letzten Jahrzehnten“ ist ein Ausschnitt aus dem Text „Gesamtwirtschaftliche Buchhaltung: Finanzierungssalden“ von Dr. Michael Paetz, in: ders.: Was-ist-geld.de. Ein Projekt der HOOU@UHH und lizenziert unter CC BY-NC 4.0.

H5P-Element: „Stärker disaggregierte Finanzierungssalden in Deutschland und Finanzierungssaldo der Unternehmenssektoren, international“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Image Slider“ steht unter einer MIT-Lizenz.