Die Zentralbank einer Währungsunion befindet sich in einer besonderen Lage: Auch wenn die Konjunktur in den einzelnen Mitgliedsländern bisweilen unterschiedlich laufen kann, muss sie dennoch mit einer einheitlichen Geldpolitik darauf antworten. Unter Politikerinnen und Wirtschaftsforscherinnen gibt es keine Einigkeit darüber, wie die europäische Währungsunion weiterentwickelt werden soll.

Seit der Einführung des Euro wird die Geldpolitik für alle Mitgliedsländer der Europäischen Währungsunion von der Europäischen Zentralbank (EZB) bestimmt, die ihren Sitz in Frankfurt am Main hat. Die EZB definiert Preisstabilität als eine mittelfristige Inflationsrate von zwei Prozent. Unterschiedliche Inflationsraten in den einzelnen Mitgliedsländern stellen die Geld- und Fiskalpolitik vor besondere Herausforderungen.

„In einer Währungsunion kann der Fall auftreten, dass es für einige Mitgliedsländer gut wäre, wenn die Zinsen sinken würden (weil hier die Arbeitslosigkeit hoch und die Inflation niedrig ist), während es für andere Mitgliedsländer besser wäre, wenn die Zinsen sich nicht verändern oder sogar steigen würden (weil hier die Arbeitslosigkeit gering ist und Lohn-Preis-Spiralen drohen). Selbst wenn die EZB ihr Inflationsziel von unter, aber nahe zwei Prozent [dieses Ziel galt für die jährliche Inflationsrate, bevor es im Jahr 2021 angepasst wurde] für den Euroraum als Ganzes erreicht, kann es sein, dass in einigen Ländern die Inflation deutlich darüber liegt, und in anderen deutlich darunter […].“1

Geldpolitik und Inflation in der Eurozone und ausgewählten Ländern im Vergleich 2006 und 2015 (in Prozent)

2006 2015
Nominalzins Inflation Realzins Nominalzins Inflation Realzins
Deutschland 3,1 1,1 2 0 0,6 -0,6
Finnland 3,1 1,3 1,7 0 0,2 -0,2
Österreich 3,1 2,1 1 0 1 -1
Frankreich 3,1 2,2 0,9 0 0 0
Eurozone 3,1 2,2 0,8 0 0,2 -0,2
Irland 3,1 2,4 0,6 0 0,6 -0,7
Luxemburg 3,1 2,5 0,5 0 0,2 -0,3
Italien 3,1 2,6 0,5 0 0,1 -0,1
Niederlande 3,1 2,7 0,4 0 0,3 -0,4
Belgien 3,1 3,1 0 0 0,5 -0,5
Griechenland 3,1 3,2 -0,1 0 -1,3 1,3
Portugal 3,1 3,5 -0,4 0 0,7 -0,7
Spanien 3,1 3,6 -0,5 0 -0,5 0,5

Geldpolitik und Inflation in der Eurozone und ausgewählten Ländern im Vergleich 2006 und 2015 (in Prozent). Quelle der Daten: AMECO-Datenbank der EU-Kommission, eigene Berechnungen.2

„Die Tabelle zeigt Werte von 2006, also kurz vor Ausbruch der Krise, und von 2015. Die Mitgliedsländer der Eurozone sind nach der Höhe der Inflationsraten (Anstieg der Konsumentenpreise) im Jahr 2006 angeordnet. (Seitdem sind auch Slowenien, Malta, Zypern, die Slowakei, Estland, Lettland […][,] Litauen [und Kroatien] der Eurozone beigetreten.)

Die kurzfristigen Nominalzinsen sind für alle Mitgliedsländer identisch, weil sie von der einheitlichen Geldpolitik durch die Europäische Zentralbank bestimmt werden. Die Realzinsen unterscheiden sich aber erheblich, weil die Inflationsraten zwischen den Ländern voneinander abweichen. Der Realzins entspricht näherungsweise der Differenz aus Nominalzins und Inflationsrate.

Das Land mit der geringsten Inflationsrate im Jahr 2006 war Deutschland, hier war der Realzins entsprechend hoch. Das Land mit der höchsten Inflationsrate war Spanien, hier war der Realzins sehr niedrig. Im Sinne der Inflationssteuerung hätten in Deutschland die Zinsen sinken müssen, weil die Inflation im Vergleich zum Inflationsziel der EZB (unter, aber nahe zwei Prozent) zu gering war, in Spanien hätten sie steigen müssen, weil die Inflation zu hoch war. Für die EZB gab es aber keine Veranlassung zu größeren Zinsänderungen, weil sie ihr Inflationsziel, bezogen auf die Eurozone insgesamt, annähernd erreichte (2,2 Prozent).

Im Jahr 2015 verfehlte die EZB ihr Inflationsziel deutlich: Die Konsumentenpreise stiegen in den zwölf älteren Euroraum-Ländern im Vergleich zum Vorjahr nur um 0,2 Prozent. Weil die EZB die Zinsen bereits auf Null gesenkt [hatte], [konnte] sie trotz zu niedriger Inflation die Zinsen nicht weiter senken. Die höchsten Realzinsen [waren] nun in Spanien und Griechenland zu beobachten. Im Sinne der Inflationssteuerung [war] dies problematisch, weil gerade in diesen Ländern die Arbeitslosigkeit hoch [war] und Deflationsspiralen droh[t]en.“2

Der Streit um die richtige Wirtschaftspolitik für die Eurozone

Eine aktivere Rolle für die Fiskalpolitik?

„Insbesondere keynesianische Ökonominnen […] fordern […], dass die Fiskalpolitik in der Währungsunion eine sehr viel aktivere Rolle bei der Steuerung der Nachfrage spielen sollte, als dies außerhalb einer Währungsunion womöglich notwendig wäre.“1 Während in einem Land mit eigener Währung und eigener Zentralbank die Geldpolitik speziell auf die wirtschaftliche Lage dieses Landes zugeschnitten sein kann, ist dies in einer Währungsunion nicht möglich.

Wie könnte die Fiskalpolitik aus keynesianischer Sicht einspringen? „In einem Land mit zu hoher Inflation müsste […] die Fiskalpolitik durch Senkung der Staatsausgaben oder Erhöhung der Steuern die Nachfrage dämpfen, um Lohn- und Preisanstiege im Zaum zu halten und dem drohenden Verlust an preislicher Wettbewerbsfähigkeit des betreffenden Landes entgegenzuwirken. Umgekehrt müsste in Ländern mit zu geringer Inflation der Staat höhere Haushaltsdefizite hinnehmen mit dem Ziel, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stärken und die Inflation der Zielmarke der EZB anzupassen. Vor diesem Hintergrund sind auch Forderungen nach einer Gemeinsamen Fiskalpolitik der EU mit einem europäischen Finanzministerium zu verstehen[, wie sie etwa von verschiedenen französischen Regierungen formuliert wurden].

So begründe[n] […] [keynesianisch orientierte Ökonominnen] die Forderung nach höheren Staatsausgaben in Deutschland auch damit, dass in Deutschland in den Jahren vor der Krise die Inflation niedriger war als im Durchschnitt des Euroraums und auch derzeit [im Jahr 2017] trotz gesunkener Arbeitslosigkeit noch unterhalb des Inflationsziels der EZB liegt. Eine expansivere Fiskalpolitik könnte daher zu mehr Nachfrage, stärkerem Lohnwachstum und höherer Inflation beitragen und damit die Deflationstendenzen im Euroraum bekämpfen.“1

Koordinierung der Lohnentwicklung?

Darüber hinaus argumentieren viele keynesianische Ökonominnen, dass in einer Währungsunion die Lohnentwicklung zwischen den Mitgliedsstaaten koordiniert werden sollte. Das Argument ist, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Entwicklung der sogenannten Lohnstückkosten und der Inflationsrate eines Landes besteht.

Lohnstückkosten = \(\frac{\text{Nominallöhne}}{\text{Arbeitsproduktivität}}\)

„Die Lohnstückkosten setzen die Nominallöhne ins Verhältnis zur Arbeitsproduktivität. Wenn die nominalen Lohnstückkosten steigen, bedeutet das also, dass die Nominallöhne stärker steigen als die Produktivität. Hierauf werden die Unternehmen in der Regel so reagieren, dass sie ihre Preise erhöhen. Wenn die Preise prozentual genauso stark steigen wie die nominalen Lohnstückkosten, bleiben die Gewinnmargen der Unternehmen (der Anteil der Unternehmen am volkswirtschaftlichen Kuchen) konstant. Wenn die nominalen Lohnstückkosten weniger stark steigen als die Preise, fällt der Anteil der Löhne am volkswirtschaftlichen Kuchen, und der Anteil der Gewinne steigt. Klar ist […], dass die Inflation (Anstieg der Preise) nicht dauerhaft deutlich größer oder kleiner sein kann als die Veränderung der nominalen Lohnstückkosten (denn sonst wäre der Anteil der Löhne am Kuchen irgendwann 100 Prozent oder 0 Prozent).“3

Diese Zusammenhänge hören sich zunächst vielleicht recht kompliziert an. Hier kann die folgende GeoGebra-Anwendung helfen. Unterhalb der Anwendung findest du ein H5P-Element, das die Anwendung erläutert und mit dessen Hilfe du verschiedene Szenarien durchspiele kannst. Dies kann dir helfen, die Zusammenhänge zwischen Produktivitätsentwicklung, Lohnentwicklung, Lohnquote, Inflation und Lohnstückkosten besser nachzuvollziehen.

H5P-Element „Szenarien zur GeoGeobra-Anwendung ,Löhne, Produktivität, Inflation, Lohnquote‘“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Die Entwicklung der Lohnstückkosten in einer Währungsunion

„Wenn sich die Preise für Güter und Dienstleistungen innerhalb einer Währungsunion über einen längeren Zeitraum in den einzelnen Mitgliedsländern sehr unterschiedlich entwickeln, gewinnen diejenigen Länder systematisch an preislicher Wettbewerbsfähigkeit, in denen Lohnstückkosten und Preise sich unterdurchschnittlich entwickeln, während diejenigen Länder an preislicher Wettbewerbsfähigkeit verlieren, in denen Lohnstückkosten und Preise stärker steigen als in den anderen Mitgliedsländern. Dies kann dann zu Ungleichgewichten in den Nettoexporten bzw. in den Leistungsbilanzen beitragen [, deren Auswirkungen wir oben bereits erörtert haben]. Außerhalb von Währungsunionen stellen unterschiedliche Inflationsraten typischerweise ein geringeres Problem dar, weil sie durch Auf- und Abwertungen der nationalen Währungen kompensiert werden können: Wenn in einem Land mit eigener Währung die Inflation über längere Zeit höher ist als bei seinen Handelspartnern, kann die Währung des Landes abwerten. Hierdurch werden dann die Exporte des Landes international wieder kostengünstiger, während die Importe teurer werden. Unter bestimmten Voraussetzungen kann daher eine Abwertung zu einer Verbesserung des Außenbeitrags führen.“3

Entwicklung der nominalen Lohnstückkosten in Ländern der Eurozone und Inflationsraten (2000 = 100)

Entwicklung der nominalen Lohnstückkosten in Ländern der Eurozone und Inflationsraten (2000 = 100) von Julian Becker, CC BY 4.0. Quelle der Daten: AMECO-Datenbank der EU-Kommission.

Währungsunion ohne „optimalen Währungsraum“?

„Einige Ökonominnen […] argumentieren [stattdessen] […], dass eine Währungsunion nur dann sinnvollerweise eingegangen werden sollte, wenn die Mitgliedsländer einen sogenannten optimalen Währungsraum bilden. Als Voraussetzung für das Vorhandensein eines optimalen Währungsraums wird dabei insbesondere die grenzüberschreitende Mobilität der Arbeitskräfte gesehen. Hierdurch könnte u. a. das Problem unterschiedlicher Inflationsraten gemildert werden: Wenn beispielsweise in einem Land die Arbeitslosigkeit niedrig und Lohnwachstum und Inflation hoch sind, müssten Arbeitnehmerinnen […] aus Ländern mit höherer Arbeitslosigkeit, geringerem Lohnwachstum und niedriger Inflation zuwandern. Hierdurch würden im Zuwanderungsland Lohnwachstum und Inflation fallen, weil das Angebot an Arbeitskräften zunehmen würde. Dies würde wiederum dämpfend auf die Löhne als Preis der Arbeit wirken. Umgekehrt könnte im Abwanderungsland die Arbeitslosigkeit fallen, wodurch Lohnwachstum und Inflation dort zunehmen könnten.

Die keynesianisch orientierten Forderungen, dass die Löhne und die Fiskalpolitik zwischen den Mitgliedsländern koordiniert werden sollten, sind aus dieser eher neoklassischen Perspektive tendenziell abzulehnen, weil der politische Koordinationsaufwand als zu hoch eingeschätzt wird bzw. weil derartige staatliche Eingriffe in die Märkte als ineffizient angesehen werden.“1

Der Text enthält gekürzte und überarbeitete Ausschnitte aus:
1 Till van Treeck für bpb.de: „Besondere Herausforderungen für die Geld- und Fiskalpolitik in einer Währungsunion“CC BY-NC-SA 4.0.
2 Till van Treeck für bpb.de: „Geldpolitik und Inflation“CC BY-NC-SA 4.0.
3 Till van Treeck für bpb.de: „Löhne als Kostenfaktor und als Nachfragequelle“CC BY-NC-SA 4.0.

Der Text im Lernabschnitt „Eine Geldpolitik für alle: zu wenig für eine erfolgreiche Währungsunion?“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0. Er enthält überarbeitete Ausschnitte aus folgenden Texten von Till van Treeck für bpb.de: „Besondere Herausforderungen für die Geld- und Fiskalpolitik in einer Währungsunion“, lizenziert unter  CC BY-NC-SA 4.0, „Geldpolitik und Inflation“, lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0, „Löhne als Kostenfaktor und als Nachfragequelle“, lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0.

GeoGebra-Element „Löhne, Produktivität, Inflation, Lohnquote“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY-SA 3.0. Bitte beachten Sie außerdem die GeoGebra Lizenz.

H5P-Element: „Szenarien zur GeoGeobra-Anwendung ,Löhne, Produktivität, Inflation, Lohnquote“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Interactive Book“ steht unter einer MIT-Lizenz.

Die Abbildung „Entwicklung der nominalen Lohnstückkosten in Ländern der Eurozone und Inflationsraten (2000 = 100)“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: AMECO-Datenbank der EU-Kommission.