Im Jahr 1974 stellte der Wirtschaftsforscher Richard Easterlin in einem Aufsatz fest, dass Wirtschaftswachstum nur begrenzt zu einer höheren Lebenszufriedenheit führt. Diese Beobachtung – mehr BIP heißt nicht automatisch eine glücklichere Bevölkerung – wird seither „Easterlin-Paradox“ genannt.

„Das Glück hielt mit dem wachsenden Wohlstand […] nicht Schritt. Das ist die Grundaussage des sogenannten ‚Easterlin-Paradox‘, das der Ökonom Richard Easterlin schon 1974 für den Zeitraum 1946-1970 in 19 der reichsten Länder der Welt beobachtet hatte […] – also gerade für jene Zeit und jenen Raum, wo der bis dato längste und beeindruckendste wirtschaftliche Aufschwung der Menschheitsgeschichte stattgefunden hatte. […] Und dennoch – so Easterlins empirisch fundierte These – sei der Beitrag all dessen zum individuellen Lebensglück überraschend begrenzt.

ÖkonomInnen begegnen diesem Paradox – dem offenbaren Widerspruch zwischen objektiv messbarem Lebensstandard und subjektiver Lebenszufriedenheit – für gewöhnlich mit der These, dass Geld eben (wie alles andere auch) einen ‚sinkenden Grenznutzen‘ aufweist, oder (weniger abstrakt) dass ab einem gewissen Level der Bedürfnisbefriedigung jede weitere Einheit (zum Beispiel jedes weitere Auto) immer weniger konkreten Nutzen
stiftet – uns also immer weniger noch glücklicher macht. Manche gehen sogar so weit, Glück als eine ‚soziale Verhältnisgröße‘ zu betrachten, die sich erst im Vergleich und in Beziehung mit anderen realisiert und so gesehen einen ‚sozialen Grenznutzen‘ aufweist […]. Darauf beruht auch die Argumentation der aktuell wieder populären Glücksökonomik, dass gleichere Gesellschaften auch glücklicher sind […]. VerhaltensökonomInnen bringen das u. a. mit der ‚Ungleichheitsaversion‘ realer Menschen – also man könnte sagen: ihrem Gerechtigkeitsempfinden – in Verbindung […] und sie gehen sogar davon aus, dass Glück individell gar nicht der gewohnten Linearität von Kosten und Nutzen gehorcht, sondern eher um eine Art ‚subjektiven Nullpunkt‘ oszilliert – sie sprechen hier von einer ‚hedonistischen Tretmühle‘.

Lebenszufriedenheit und Pro-Kopf-BIP in Deutschland, 1999 bis 2022

Lebenszufriedenheit und Pro-Kopf-BIP in Deutschland, 1999 bis 2022 von Julian Becker, CC BY 4.0. Quelle der Daten: Reales Pro-Kopf-BIP: AMECO-Datenbank der EU-Kommission, Lebenszufriedenheit: Bernd Raffelhüschen: SKL Glücksatlas 2023, München 2023.

Was also zunächst (vor allem für ÖkonomInnen) paradox erscheinen mag, ist vielleicht nichts als die ernüchternde Einsicht, dass Geld nicht glücklich macht – und sich ergo auch nicht wie Geld verhält, sich also nicht einfach anhäufen, kalkulieren, horten, investieren usw. lässt.[…] Vielleicht also gar kein Paradox, sondern vielmehr eine hartnäckige Illusion, die schon der Soziologe Georg Simmel für das ‚ungeheure Glücksverlangen des modernen Menschen‘ und seine Rastlosigkeit verantwortlich gemacht hatte: ‚Dass für Geld alles zu haben sei, und wenn schon nicht gleich, dann mit mehr Geld.‘“

Gekürzter Ausschnitt aus: Raith, Dirk: „Glück? Das BIP ist hoffnungslos materialistisch“CC BY-NC-SA 4.0.

Lebenszufriedenheit und relative Einkommenshöhe, 2016

Der Text im Lernabschnitt „Macht ein höheres BIP glücklicher? Das ,Easterlin-Paradox’“ ist ein gekürzter Ausschnitt aus: „Glück? Das BIP ist hoffnungslos materialistisch“ von Dirk Raith auf imzuwi.org und ist lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0

Die Abbildung „Berichtete Lebenszufriedenheit vs. BIP pro Kopf, 2022“ ist eine Bearbeitung (Übersetzung, Bildausschnitt) der Originalabbildung „Self-reported life satisfaction vs. GDP per capita, 2022“ von Esteban Ortiz-Ospina und Max Roser (2017), in: – “Happiness and Life Satisfaction” Published online at OurWorldInData.org. Retrieved from: ‚https://ourworldindata.org/happiness-and-life-satisfaction‘ [Online Resource]. Lizenz der Abbildung: CC BY 4.0.

Die Abbildung „Lebenszufriedenheit und Pro-Kopf-BIP in Deutschland, 1999 bis 2022“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: Reales Pro-Kopf-BIP: AMECO-Datenbank der EU-Kommission, Lebenszufriedenheit: Bernd Raffelhüschen: SKL Glücksatlas 2023, München 2023.

Die Abbildung „Lebenszufriedenheit und relative Einkommenshöhe, 2016“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: Eurofound (2017), European Quality of Life Survey 2016: Quality of life, quality of public services, and quality of society, Publications Office of the European Union, Luxembourg.