Manche wirtschaftswissenschaftliche Perspektiven äußern Kritik am BIP und der VGR. Dazu zählt die Feministische Ökonomik. Sie interessiert sich besonders für den Zusammenhang von Wirtschaft und Geschlechterverhältnissen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Begriff „Care-Arbeit“. Diese Art der Arbeit wird im BIP nicht immer genug berücksichtigt, sagen Vertreterinnen der Feministischen Ökonomik. Der Textauszug von der E-Learning-Plattform „Exploring Economics“ stellt die Perspektive vor.

#Feministische Ökonomik #Exploring Economics

Exploring Economics ist eine frei zugängliche e-Learning-Plattform für Wirtschaftswissenschaften. Hier kannst Du die Pluralität der Wirtschaftstheorien, Methoden und Themen entdecken und studieren.

„Die feministische Ökonomik untersucht den […] Zusammenhang von Geschlechterverhältnissen und Ökonomie. Sie fasst dabei auch den unbezahlten, nicht-marktvermittelten Teil der Wirtschaft und Gesellschaft ins Auge. […] [Sie] widmet sich auch der Analyse des Patriarchats und des Kapitalismus als miteinander verschränkte Herrschaftsformen. Dabei stellt sie Fragen nach der Verfügung über Eigentum, Einkommen, Macht, Wissen und den eigenen Körper.[…][Alle Varianten der] Feministische[n] Ökonomik beschäftigen sich […] mit der sogenannten Care- oder Reproduktionsarbeit. Darüber hinaus werden die Rolle des Staates, der Wissenschaft, der Sprache und Wachstumsdynamiken für Geschlechterverhältnisse untersucht. Dabei wird kritisiert, dass die Wirtschaftswissenschaften die Erfahrungen von Frauen ausblenden und darauf hingewiesen, dass Frauen wenig in den Wirtschaftswissenschaften vertreten sind. Diese Umstände wirken sich wiederum auf die wissenschaftliche Erkenntnis aus. Die feministische Ökonomik macht also deutlich, dass wissenschaftliche Erkenntnis und allgemein akzeptierte Ideen ebenso durch Herrschaftsverhältnisse geformt sind wie die gesamte Gesellschaft. Beispielhaft dafür ist, dass die Analyse von Geschlechterverhältnissen erst nach Jahrhunderten der Aktivitäten der Frauenbewegungen zunehmend Eingang in die Volkswirtschaftslehre findet.

Einige zentrale Fragen der feministischen Ökonomik sind:

  • […] Warum wurde Haus-, Erziehungs- und Sorgearbeit in der Ökonomik seit dem 19. Jahrhundert nicht als Arbeit anerkannt und nicht in ökonomischen Theorien behandelt? […]
  • […] Wie stellt sich die heutige ökonomische Situation von Frauen in Bezug auf die Teilnahme am Arbeitsmarkt und Lohneinkommen dar und was sind die sozialen Prozesse dahinter? […]
  • Was sind geschlechtsspezifische Effekte von makroökonomischer Politik und wie würden Diskussionen über makroökonomischen Fragestellungen, wie nach den Staatsausgaben, Wachstum und internationalem Handel, geführt werden, wenn die Volkswirtschaftslehre (VWL) nicht geschlechterblind wäre?

H5P-Element „Feministische Ökonomik“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

In der feministischen Ökonomik ist das Verständnis von Arbeit zentral, worunter nicht nur Erwerbs-, sondern auch Haus- und Sorgearbeit verstanden wird, sowie ihre (Nicht-)Bezahlung und Aufteilung unter den Geschlechtern.

Feministische Ökonomik versteht Wirtschaft als die Art und Weise wie Menschen sich kollektiv organisieren um ihr Überleben zu sichern […]. Mit ihrer Arbeitskraft und der Nutzung von Ressourcen re-produzieren Menschen ihre Lebensgrundlage. Dies geschieht einerseits durch Güterproduktion und andererseits durch individuelle, gesellschaftliche und generative Reproduktion. Unter Reproduktionsarbeit versteht man dabei marktvermittelte sowie nicht-marktvermittelte, bezahlte und unbezahlte Arbeiten. Beispiele von Reproduktionsarbeit sind das Aufziehen von Kindern, das Betreuen von (bedürftigen) Erwachsenen, das Einkaufen und Zubereiten von Mahlzeiten oder die Sorge für Hygiene, sowie die generative Reproduktion, das Zeugen und Gebären von Kindern […]. Die Sorgearbeiten werden auch unter dem Begriff ‚Care‘ gefasst und folgen anderen Dynamiken als zum Beispiel die industrielle Produktion. Das ‚Produkt‘ solcher Arbeit kommt nur in der Anwesenheit der Empfänger*innen zustande und seine Qualität wird durch Rationalisierung, z. B. durch Zeiteinsparung oder den Einsatz von Maschinen, in einem empfindlichen Maße beeinträchtigt. Denn die besondere Qualität dieser Tätigkeiten besteht gerade im menschlichen Kontakt […]. Obwohl die produktive Sphäre immer eine reproduktive voraussetzt, da sie auf der Verfügbarkeit von Sorgearbeit (und natürlichen Ressourcen) basiert, hat die Volkswirtschaftslehre bisher vornehmlich den marktvermittelten und bezahlten Teil der Ökonomie analysiert. Reproduktionsarbeit wird zunehmend in der Ökonomie sichtbar, da sie unter anderem vermehrt über bezahlte Arbeit abgewickelt wird und Frauen stärker am Arbeitsmarkt teilhaben. […]

Feministische Ökonomik war und ist stets eng mit politischen und sozialen Bewegungen, insbesondere der Frauenbewegung, verbunden. Diese ist für Wahlrecht, Arbeitsmarktzugang, finanzielle Unabhängigkeit, Mitbestimmung in Gewerkschaften, sexuelle und körperliche Selbstbestimmung und Anerkennung eingetreten […]. Zudem setzten sie sich seit den 1970er Jahren für eine Ausweitung des Arbeitsbegriffes ein, damit dieser nicht nur bezahlte Tätigkeiten mit einschließt […]. Ziel von Theoriebildung und Analysen ist es dabei, Geschlechterhierarchien und andere Ungleichheiten aufzuzeigen, bestehende ökonomische und soziale Strukturen, Institutionen oder Gesetze zu kritisieren und Alternativen zu präsentieren, die die Emanzipation von Frauen, Ethnien und Klassen ermöglichen […]. Emanzipation wird dabei nicht einheitlich aufgefasst. Die Politikempfehlungen fallen je nach ökonomischer Theorieschule unterschiedlich aus: [die] liberale [feministische Ökonomik] fordert die Gleichstellung von Frauen in Bezug auf Lohn, Berufswahl (Chancengleichheit) oder Repräsentation in politischen Gremien und VWL-Fakultäten, beispielsweise über Quoten. Zudem fordert sie die Berücksichtigung der Genderdimension in polit-ökonomischen Entscheidungen (gender-mainstreaming). Hingegen fordert die kritische [feministische Ökonomik] eine Umgestaltung der Ökonomie bis hin zur (revolutionären) Re-Organisation der Gesellschaft. Sie sieht die Einbindung von Frauen und Care-Arbeit in den Arbeitsmarkt als wichtigen emanzipatorischen Schritt an, weist jedoch auf die Doppelbelastung von Frauen, die weiterhin unbezahlte Care-Arbeit leisten, und Rationalisierungslogiken des Marktes hin. Letztere stehen im Widerspruch zu den Anforderungen von Care-Arbeit. Infolgedessen liegt ihr Fokus stärker auf den Strukturen, die Ungleichheiten hervorrufen. […]

Zeitverwendung für Sorgearbeit nach Haushaltstypen in Deutschland (2012/2013), in Stunden pro Tag (Minuten in Dezimalzahlen umgewandelt)

In der Debatte um unbezahlte Arbeit liefern Zeitbudgetstudien eine Einsicht, wie Menschen ihre Zeit für Erwerbsarbeit, unbezahlte Reproduktionsarbeit, Freizeit etc. verwenden. Diese Studien ‚sind aus Genderperspektive deshalb relevant, weil sie als Indikator für ökonomische Wertschöpfung nicht Geldströme messen, sondern zeitliche Belastungen‘ (Bauhardt 2012, 4). Sie ermöglichen bspw. Berechnungen, die den Anteil von unbezahlter Arbeit am bisherigen BIP aufzeigen […]. Eine Studie des Statistischen Bundesamtes (2015) zeigt beispielsweise die Zeitverwendung von Frauen und Männer in Deutschland im Zeitraum 2012/2013. Im Unterschied zum Zeitraum 2001/2002 ist der Zeitaufwand für unbezahlte Arbeit für beide Geschlechter gesunken, Frauen verwenden jedoch zwei Drittel ihrer Arbeitszeit für unbezahlte Tätigkeiten, bei Männern liegt dies bei weniger als die Hälfte.

Aus diesen Überlegungen folgt ein zentraler Kritikpunkt der feministischen Ökonomik an einer vorherrschenden Betrachtungsweise: der Unterteilung in die Sphären Markt und Haushalt. Auf dem Markt finden produktive (männliche), im „Privaten“ unproduktive (weibliche) Tätigkeiten statt. Diese Sichtweise markiert zum einen unbezahlte Tätigkeiten als unproduktiv und nicht wertschaffend. Zum anderen blendet sie die Rolle reproduktiver Tätigkeiten im Produktionsprozess aus […]. Dementsprechend werden in der VGR diese Tätigkeiten nicht berücksichtigt. Aufgrund dessen sind laut feministischer Ökonomik Indikatoren wie das BIP für die Messung von Wohlstand unangebracht.“

Gekürzte Version des Textes von: Janina Urban und Andrea Pürckhauer: Feministische ÖkonomikCC BY 4.0.

H5P-Element „Feministische Ökonomik: Ausschnitte aus https://www.exploring-economics.org/de/orientieren/#compare“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Der Text im Lernabschnitt „„Exploring Economics“: Die feministische Ökonomik“ ist ein gekürzter Ausschnitt aus „Feministische Ökonomik“ von Janina Urban und Andrea Pürckhauer und lizenziert unter CC BY 4.0.

H5P-Element: „Feministische Ökonomik“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Course Presentation“ steht unter einer MIT-Lizenz.

H5P-Element: „Feministische Ökonomik: Ausschnitte aus https://www.exploring-economics.org/de/orientieren/#compare“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Accordion“ steht unter einer MIT-Lizenz.

Die Abbildung „Zeitverwendung für Sorgearbeit nach Haushaltstypen in Deutschland (2012/2013), in Stunden pro Tag (Minuten in Dezimalzahlen umgewandelt)“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: Klünder, Nina: Differenzierte Ermittlung des Gender Care Gap auf Basis der repräsentativen Zeitverwendungsdaten 2012/13. Berlin: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V., Geschäftsstelle Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, 2017. DOI: https://doi.org/10.25595/1368.