Seit 1967 – dem Jahr, als das „magische Viereck“ festgeschrieben wurde – hat sich einiges verändert. So sind inzwischen Umweltprobleme wie die Klimakrise bekannt geworden. Rein quantitatives Wirtschaftswachstum wird heute von vielen nicht mehr als erstrebenswertes Ziel angesehen und auch das BIP ist in die Kritik geraten. Sollte also auch das alte magische Viereck durch ein neues ersetzt werden? Und wie könnte das aussehen? Die folgenden zwei Texte beziehen hierzu Stellung.

PRO:  WAS FÜR EIN NEUES MAGISCHES VIERECK SPRICHT

Der Wirtschaftsforscher Fabian Lindner erklärte im Jahr 2017, was es mit dem Vorschlag eines „neuen magischen Vierecks“ auf sich hat und was dessen Vorteile wären:

„Schon seit einigen Jahren wird verstärkt darüber diskutiert, ob das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wirklich den allgemeinen Wohlstand der Bevölkerung erhöht. Zum Beispiel scheint es ab einer bestimmten Höhe des Pro-Kopf- BIP keinen Zuwachs der Zufriedenheit der Bevölkerung mehr zu geben […]. Darüber hinaus bedeutet ein stetiges Wirtschaftswachstum unter den herrschenden Produktionsbedingungen einen weiteren Abbau der natürlichen Ressourcen. Auf der anderen Seite ist Wachstum bei einer weiterhin positiven Produktivitätsentwicklung notwendig, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden und Beschäftigung zu schaffen.

Es gibt also Konflikte zwischen wichtigen gesellschaftlichen Zielen, die nicht immer leicht aufgelöst werden können. Politik und Gesellschaft müssen immer wieder austarieren, wie wichtige wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele erreicht werden können und welche Konflikte, aber auch welche Komplementaritäten, zwischen den Zielen bestehen.

Dullien und van Treeck [die Entwickler des neuen magischen Vierecks] haben deswegen vorgeschlagen, dass sich die Bundesregierung gesetzlich auf ein ‚Neues Magisches Viereck nachhaltiger Wirtschaftspolitik‘ festlegen sollte, welches das alte Magische Viereck der Wirtschaftspolitik, wie es im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 festgehalten wurde, ablösen soll. Im neuen Gesetz sollen vier Nachhaltigkeits- und Wohlstandsziele gleichberechtigt nebeneinander stehen […]:

  • Materieller Wohlstand und ökonomische Stabilität
  • Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und der Staatsfinanzen
  • Soziale Nachhaltigkeit
  • Ökologische Nachhaltigkeit

Die jeweilige Bundesregierung soll dann auf Grundlage des Neuen Magischen Vierecks öffentlich darstellen, wie sie die vier Ziele erreichen will, welche Zielkonflikte und Komplementaritäten sie bei den Zielen feststellt und wie sie mit diesen umgeht.

H5P-Element „Vom magischen Viereck zum Sechseck zum neuen magischen Viereck“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Zu den vorgeschlagenen vier Zielen gibt es zwar einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Welche konkreten Akzente aber auf welches Ziel gesetzt werden und wie diese Ziele zu erreichen sind, ist durchaus umstritten und kann und soll unterschiedlich bewertet werden.

Im Gegensatz zu bisher vorgeschlagenen und auch umgesetzten Indikatorensystemen [wie zum Beispiel dem NWI] hat das ‚Neue Magische Viereck‘ den Vorteil, dass es nicht nur Ziele auflistet, deren Erfüllung oder Nichterfüllung abgehakt werden kann, sondern die jeweilige Regierung sollte dazu verpflichtet werden, die Spannungsverhältnisse zwischen den Zielen zu thematisieren. Das gäbe der Öffentlichkeit und der Politik die Möglichkeit, kontrovers, aber auf gemeinsamer Grundlage über wichtige Ziele einer nachhaltigen Gesellschaft zu streiten, ohne schon von Anfang an einige Nachhaltigkeitsziele prinzipiell als wichtiger darzustellen als andere Ziele.

Nach der momentanen Rechtslage stehen die […] formulierten Ziele allerdings nicht gleichranging nebeneinander. Vielmehr hat vor allem das Ziel der fiskalischen Nachhaltigkeit Priorität, was zum Teil zu Konflikten mit anderen Zielen führt. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) auf europäischer Ebene sieht finanzielle Sanktionen vor, wenn die Staaten ihre Defizite nicht ausreichend senken – und geringe Defizite haben in Deutschland mit der 2009 erlassenen Schuldenbremse auch Verfassungsrang. Zielkonflikte mit den anderen Nachhaltigkeitszielen werden oft nicht ausreichend betrachtet.

Der Bezug auf öffentliche Investitionen, der vorher im Rahmen der weithin akzeptierten ‚Goldenen Regel‘ öffentlicher Finanzen auch im Grundgesetz stand, ist mit der Schuldenbremse aus dem Grundgesetz gestrichen worden und ist auch kein Bestandteil des SWP.

Wenn zur Defizitreduzierung oder zum Schuldenabbau aber öffentliche Investitionen, Bildungs- und/oder Umweltausgaben gekürzt werden – was etwa in der Eurokrise in vielen Krisenländern der Fall war […] – geht der Abbau von Defizit
en und Schuldenständen klar zulasten anderer, ebenso wichtiger Nachhaltigkeitsziele.

Zwar hat sich die Bundesregierung national und international auch auf konkrete soziale und ökologische Ziele verpflichtet. Diese haben aber weder gesetzlich noch verfassungsrechtlich den gleichen Status wie die Schulden- und Defizitreduktion. Das Verfehlen der Treibhausgasemissionsziele oder der Ziele zur Beschäftigungssteigerung ziehen keine Sanktionen nach sich.

H5P-Element „Das neue magische Viereck und seine Indikatoren“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

CONTRA: WARUM EINE ÄNDERUNG DES STABILITÄTSGESETZES NICHT NÖTIG IST

Damalige Wirtschaftsforscherinnen aus dem Sachverständigenrat sprachen sich im Jahr 2016 dagegen aus, das Stabilitätsgesetz (StabG) und mit ihm das alte magische Viereck zu reformieren:

„Das StabG sollte […] als Instrumentenkasten für konjunkturelle Ausnahmesituationen erhalten bleiben. Aber es ist schlichtweg nicht sinnvoll, das StabG zu überfrachten, indem man es um ökologische und soziale Nachhaltigkeitsziele erweitert und Formulierungen zu einem entsprechend erweiterten Baukasten wirtschaftspolitischer Instrumente aufnimmt. […]

Die Forderung, dass wirtschaftspolitisches Handeln gleichermaßen die ökonomische, soziale und ökologische Nachhaltigkeit berücksichtigen sollte, ist zweifellos berechtigt. Bei Fragen der Nachhaltigkeit gehen aber der gründliche Diskurs und die sorgfältige Umsetzung immer vor Schnelligkeit. Daher erfordern Nachhaltigkeitsziele kein beschleunigtes Umsetzungsverfahren, wie es das StabG vorsieht. Sie können und sollten stattdessen mittels regulärer Gesetzgebungsverfahren angestrebt werden. Die Forderung, das StabG durch Nachhaltigkeitsziele und entsprechende Instrumente zu ergänzen, verkennt die Potenziale und Grenzen wirtschaftspolitischen Handelns. Es ist klug, ihr nicht zu folgen.

Sinnvoll wäre es vielmehr, […] ergänzend zum StabG ein entsprechendes Berichtswesen zu etablieren. Dieses würde als rein beschreibendes Instrument erfassen, wie sich Wohlstand und Fortschritt entwickeln, und könnte damit als Basis eines umfassenden wirtschaftspolitischen Diskurses dienen, der sich am Leitbild der Nachhaltigkeit ausrichtet. Als wirtschaftspolitisches Steuerungsinstrument wäre dieses Berichtswesen hingegen ohne eine weitere Einbettung in einen strukturierten wirtschaftspolitischen Diskurs nicht geeignet. […]

Das im Juni 1967 verabschiedete StabG definiert einerseits einen gesamtwirtschaftlichen Zielkatalog und stellt andererseits einen darauf abgestimmten Instrumentenkasten bereit, mit dessen Hilfe ohne Verzögerungen auf konjunkturelle Schwankungen reagiert werden kann. Im Rahmen des StabG soll der Staat sich nur einschalten, wenn durch solche Eingriffe die marktwirtschaftliche Ordnung und das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht
nicht gefährdet werden. Im Gleichgewicht sollen Wirtschaftswachstum und Beschäftigung eine angemessene Höhe erreichen, die dem Potenzial der Volkswirtschaft entspricht und somit nicht zu Inflation führt.[…]

Im Gegensatz zur Stabilisierung der Konjunktur ist nachhaltiges wirtschaftspolitisches Handeln keine Frage der Geschwindigkeit. Der Gesetzgeber hat bereits heute alle Möglichkeiten, im Sinne der Nachhaltigkeit verantwortungsbewusst zu handeln. Der wirtschaftspolitische Diskurs sollte sich daher darauf konzentrieren, ob der Staat diese Möglichkeiten auch tatsächlich nutzt. So wird insbesondere kein reformiertes StabG benötigt, um im Sinne der staatlichen Nachhaltigkeit die öffentliche Schuldenlast weiter abzubauen und dabei öffentliche Zukunftsaufgaben hinreichend zu berücksichtigen. Dafür wäre ‚nur‘ eine Re-Orientierung staatlichen Handelns notwendig.

Gleiches gilt für Aspekte der sozialen Nachhaltigkeit, etwa den Zugang zu fairen Bildungschancen, und der ökologischen Nachhaltigkeit, etwa die Steigerung der Ressourcenproduktivität. Das Verständnis, dass wirtschaftliches und wirtschaftspolitisches Handeln immer im Hinblick auf ihre langfristigen Auswirkungen zu betrachten sind, liegt ja geradezu in der Natur des Begriffs der Nachhaltigkeit. Daher ist bei der Frage, wie Nachhaltigkeit verwirklicht werden sollte und welche Zielkonflikte dabei gegebenenfalls zu überwinden sind, der sorgfältige Diskurs das alles Entscheidende, und die Geschwindigkeit von Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen nachrangig. [….]

Die […] Frage, ob eine gegebene gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung mit allen drei Aspekten der Nachhaltigkeit vereinbar ist, wirft noch größere Probleme der Erkenntnis auf. Diese sind wiederum nur mit dem Einsatz ökonomischer Expertise zu mildern und nicht durch gesetzliche Festlegung zu lösen. Denn es reicht nicht aus, lediglich den Ist-Zustand verlässlich zu beschreiben. Vielmehr gilt es, auch die zu erwartende weitere Entwicklung verlässlich einzuschätzen. Mehr noch, die Ursachen für gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen und die zu erwartenden Wirkungen möglicher politischer Eingriffe sind typischerweise unsicher und von der konkreten Anwendungssituation abhängig. […]

Es ist also weder sinnvoll, das bestehende, einen streng abgegrenzten Bereich der Wirtschaftspolitik durch beschleunigte Verfahren unterstützende StabG mit einem erweiterten Zielkanon zu überfrachten, der nicht mit entsprechenden Instrumenten unterlegt ist. Noch sollte man die Illusion nähren, man könnte diese Asymmetrie überwinden, indem dieses ‚neue magische Viereck‘ sinnvoll mit Instrumenten unterlegt werden könnte, deren konkreten Einsatz das Gesetz beschreibt. Das Streben nach einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik sollte der Gegenstand eines informierten wirtschaftspolitischen Diskurses und regulärer Gesetzgebungsverfahren bleiben.“

Der Text „Pro: Was für ein neues magisches Viereck spricht“ ist ein gekürzter Ausschnitt aus „Wie nachhaltig ist Deutschland? Das Neue Magische Viereck der Wirtschaftspolitik 2008-2016. IMK Report, Nr. 131, Düsseldorf 2017“ von Fabian Lindner, freundlich zur Verfügung gestellt unter CC BY 4.0.

Der Text „Contra: Warum eine Änderung des Stabilitätsgesetzes nicht nötig ist“ ist ein gekürzter Ausschnitt aus „Überprüfung des Stabilitätsgesetzes: noch einmal, mit Gefühl – eine Erwiderung, Wirtschaftsdienst 2016, Heft 4, S. 261–264“ von Steffen Elstner, Henrike Michaelis, Christoph M. Schmidt, lizenziert unter CC BY 4.0.

H5P-Element: „Vom magischen Viereck zum Sechseck zum neuen magischen Viereck“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Agamotto“ steht unter einer MIT-Lizenz.

H5P-Element: „Das neue magische Viereck und seine Indikatoren“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Course Presentation“ steht unter einer MIT-Lizenz.