Gesetzlich vorgegebene Ziele der Wirtschaftspolitik fallen nicht einfach so vom Himmel. Sie entstehen vor bestimmten geschichtlichen Hintergründen und tragen Idealen und Interessen ihrer Zeit Rechnung. Dies gilt auch für das „magische Viereck“ und die „Schuldenbremse“, die du schon kennengelernt hast.

#In the long run …

In den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg war der Keynesianismus in der westlichen Welt die vorherrschende Wirtschaftstheorie. In der Bundesrepublik galt dies allerdings zunächst eher nicht. Die Wirtschaftspolitik der fünfziger und sechziger Jahre unter der konservativ-liberalen Koalition war eher von der Theorieschule des Ordoliberalismus und dem Schlagwort der „Sozialen Marktwirtschaft“ geprägt. Wirtschaftsminister für die CDU in dieser Zeit (1949-1963) war Ludwig Erhard, ein Vertreter ordoliberaler Ansätze. 1963 wurde er Bundeskanzler.

1966/67 kam es erstmals zu einer wirtschaftlichen Rezession in der Bundesrepublik: Das BIP schrumpfte leicht und die Arbeitslosenquote
stieg an. Für die deutsche Bevölkerung, die an hohe Wachstumsraten und eine geringe Arbeitslosigkeit gewöhnt war, stellt dies einen harten Einschnitt dar. Die unerwartete Entwicklung führte nicht nur zu starker Verunsicherung, sondern auch zur Kritik an der Wirtschaftspolitik der Regierung. Diese hatte aus Sicht der Kritikerinnen nicht genug zur Lenkung der Wirtschaft unternommen.

Vom Ordoliberalismus zur Globalsteuerung

Vor diesem Hintergrund kam es Ende 1966 zur Bildung der ersten Großen Koalition aus CDU und SPD. Ludwig Erhard trat ab, an seiner Stelle wurde Kurt-Georg Kiesinger (CDU) Bundeskanzler. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik war damit auch die SPD an der Regierung beteiligt. Die Partei hatte sich spätestens 1959 von der Denkschule der marxistischen politischen Ökonomie abgewendet. Wirtschaftspolitisch orientierte man sich nun am Keynesianismus. Hierfür stand besonders der Wirtschaftsforscher und SPD-Politiker Karl Schiller. Er wurde in der neuen Regierung der Großen Koalition ab 1966 Wirtschaftsminister. Damit bestimmte auch in Deutschland der Keynesianismus die Wirtschaftspolitik.

Der damalige Begriff für die keynesianische Wirtschaftspolitik war „Globalsteuerung“, weil dem Staat hierbei eine umfassende Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung zufallen sollte. Hierbei ging es vor allem darum, das konjunkturelle Auf und Ab durch die Anpassung der Staatsausgaben und -einnahmen zu regulieren. Durch eine antizyklische (d. h. gegen den konjunkturellen Trend gerichtete) Gestaltung der öffentlichen Ausgaben sollte die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisiert werden, um so die konjunkturellen Wellen zu „glätten“. In Zeiten eines konjunkturellen Abschwungs, in denen sich die privaten Haushalte und Unternehmen mit Konsum und Investitionen zurückhalten, sollte der Staat mit höheren Ausgaben einspringen, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stabilisieren. Eine besondere Betonung lag dabei auf dem Ziel der geringen Arbeitslosigkeit, was für den Keynesianismus eine herausgehobene Bedeutung hat.

Zunächst erschien diese Politik sehr erfolgreich, da die Krise der Jahre 1966/67 schnell überwunden werden konnte, was keynesianische Ökonominnen als Erfolg der staatlichen Konjunkturprogramme werteten. Die Arbeitslosigkeit ging zurück, und auch das Wirtschaftswachstum war wieder kräftig. Man schien den Schlüssel zu einer rationalen Steuerung der Wirtschaft gefunden zu haben. Im Jahr 1967 goss man diese neue Art der Wirtschaftspolitik in die Form eines Gesetzes: Das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“, kurz: Stabilitätsgesetz wurde erlassen. Darin wurden nicht nur wirtschaftspolitische Ziele festgelegt, sondern auch ein Instrumentenkasten geschaffen, der es dem Staat ermöglichen sollte, diese Ziele zu erreichen. Diese Instrumente sollten es ermöglichen, sehr schnell auf Wirtschaftsstörungen zu reagieren, um so die Konjunktur zu stabilisieren. Eine besondere Rolle spielen hierbei fiskalpolitische Maßnahmen, also solche, welche die Staatsausgaben und -einnahmen betreffen. Auch für die Zusammenarbeit von Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und Regierung wurden neue Formen gefunden. Die wirtschaftspolitischen Erfolge dieser Jahre trugen dazu bei, dass die SPD nach der Bundestagswahl 1969 mit Willy Brandt erstmals den Bundeskanzler stellte.

Aus keynesianischer Sicht bestand das Hauptproblem der Wirtschaftspolitik darin, dass die Marktwirtschaft ohne stabilisierende Eingriffe des Staates immer wieder mit hoher Arbeitslosigkeit auf Grund von zu geringer privater Nachfrage einhergeht. Dem Ziel einer hohen Beschäftigung und der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sollten daher andere Ziele – wie etwa die Preisstabilität oder die Begrenzung des staatlichen Haushaltsdefizits – tendenziell untergeordnet werden.

Als allerdings in den 1970er Jahren erneut wirtschaftspolitische Probleme auftauchten und Arbeitslosigkeit und Inflation gleichzeitig anstiegen, gerieten die Globalsteuerung und der Keynesianismus in die Kritik. Dessen Mittel schienen sich in den 1970er Jahren als ungeeignet zu erweisen, was besonders die Anhänger der „neoklassischen Gegenrevolution“ betonten. Das Stabilitätsgesetz blieb allerdings erhalten.

Wirtschaftspolitische Indikatoren in Westdeutschland, 1950–1974

„Wirtschaftspolitische Indikatoren in Westdeutschland, 1950–1974“ von Julian Becker, CC BY 4.0. Hinweis: Im Unterschied zur Arbeitslosenquote in anderen Kapiteln werden hier die Werte bezogen auf abhängige zivile Erwerbspersonen angegeben, um eine lange Reihe zeigen zu können. Quelle der Daten: Arbeitslosenquote: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf; Wachstumsrate des realen Pro-Kopf-BIP, Inflationsrate: Eigene Berechnung der Wachstumsraten anhand der Daten in Òscar Jordà, Moritz Schularick, and Alan M. Taylor. 2017. “Macrofinancial History and the New Business Cycle Facts.” in NBER Macroeconomics Annual 2016, volume 31, edited by Martin Eichenbaum and Jonathan A. Parker. Chicago: University of Chicago Press. Lizenz der Datenbank: CC BY-SA 4.0.

Von der Globalsteuerung zur Schuldenbremse

Die keynesianische Globalsteuerung schien ihre Wirksamkeit im Jahr 1967 erfolgreich unter Beweis gestellt zu haben. Der Staat verfügte anscheinend über das nötige Instrumentarium, um die gesetzlich vorgegebenen Stabilisierungsziele dauerhaft zu erreichen. Hierzu gehörte auch die Möglichkeit, sich zu verschulden, wenn das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Gefahr geriet. Auch darüber hinaus wurde Staatsverschuldung als unproblematisch erachtet, solange diese dazu diente, öffentliche Investitionen zu finanzieren. Dies galt als „Goldene Regel“ der Finanzpolitik und wurde 1969 im Grundgesetz festgehalten: „Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.“ (Art 115 GG, 1969 bis 2009)

Doch die Globalsteuerung geriet bald in die Kritik. Bereits wenige Jahre später kam es erneut zu Wirtschaftskrisen (den „Ölpreiskrisen“ 1973/1979), in deren Folge die Arbeitslosigkeit anstieg und das Wachstum zurückging. Außerdem stieg nun vorübergehend auch die Inflation an. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Stagflation“, d. h. dem gleichzeitigen Vorliegen von Inflation und geringen Wachstumsraten. Damit erschienen gleich mehrere Zieldimensionen des „Stabilitätsgesetzes“ in Gefahr. Kritikerinnen der keynesianischen Globalsteuerung argumentierten, dass die Rezepte der Geld- und Fiskalpolitik in den 1970er und 1980er Jahren ungeeignet waren, die „Stagflation“ zu überwinden.

Wirtschaftspolitische Indikatoren in Westdeutschland, 1970–1990

„Wirtschaftspolitische Indikatoren in Westdeutschland, 1970–1990“ von Julian Becker, CC BY 4.0. Hinweis: Im Unterschied zur Arbeitslosenquote in anderen Kapiteln werden hier die Werte bezogen auf abhängige zivile Erwerbspersonen angegeben, um eine lange Reihe zeigen zu können. Quelle der Daten: Arbeitslosenquote: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf; Wachstumsrate des realen Pro-Kopf-BIP, Inflationsrate: Eigene Berechnung der Wachstumsraten anhand der Daten in Òscar Jordà, Moritz Schularick, and Alan M. Taylor. 2017. “Macrofinancial History and the New Business Cycle Facts.” in NBER Macroeconomics Annual 2016, volume 31, edited by Martin Eichenbaum and Jonathan A. Parker. Chicago: University of Chicago Press. Lizenz der Datenbank: CC BY-SA 4.0.

Vor diesem Hintergrund setzte in den 1970er Jahren in der Wirtschaftswissenschaft eine „neoklassischen Gegenrevolution“ ein: Die Abkehr vom Keynesianismus und seinen Argumenten. Dabei wurde unter anderem die Staatsverschuldung nun anders bewertet. Neoklassikerinnen hielten (und halten) sie nicht nur als konjunkturpolitisches Instrument für wenig hilfreich, sondern sogar für schädlich, weil dadurch private Investitionen verdrängt werden könnten (sog. „Crowding Out“-These). Darüber hinaus gewannen politikwissenschaftliche Theorien an Einfluss, die davon ausgingen, dass demokratische Regierungen dazu neigen, die Staatsverschuldung unkontrolliert auszuweiten, um sich so ihre Wiederwahl zu „erkaufen“. Politikerinnen seien auch in wirtschaftlich guten Zeiten nicht zu Sparpolitik fähig, weshalb sie durch Gesetze dazu gezwungen werden müssten, stärker auf Haushaltsdisziplin zu achten.

Verschuldung des Staates in Prozent des BIP, 1950-2022

Die Staatsverschuldung stieg indes unter anderem in Folge der beiden Wirtschaftskrisen in den 1970ern erheblich an, ohne dass die Ziele des Stabilitätsgesetzes erreicht werden konnten. Dies trug mit dazu bei, dass die sozial-liberale Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt 1982 von einer konservativ-liberalen Regierung unter Kanzler Helmut Kohl abgelöst wurde. Nach einer vorübergehenden Phase der Stabilisierung der Schuldenstandsquote kam es dann in den 1990ern im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung erneut zu einem erheblichen Anstieg. Die Schuldenstandsquote stieg über die 60 Prozent-Grenze, die in der europäischen Währungsunion als Obergrenze vereinbart worden war. Mehr und mehr erschien es im Laufe der 2000er Jahre in Wissenschaft und Politik als Gebot der Stunde, dass zukünftigen Regierungen eine Pflicht zu einer stärkeren Haushaltsdisziplin auferlegt werden sollte. Auch das allgemeine Meinungsklima sah einen weiteren Anstieg der Staatsverschuldung zunehmend kritisch: Die Öffentlichkeit begann sich Sorgen darum zu machen, ob der Staat bei immer stärkerer Verschuldung (und damit auch steigenden Zinsausgaben) auch in Zukunft seinen Aufgaben noch nachkommen könnte. Schließlich wurden im Jahr 2009 während der Großen Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel die entsprechenden Regelungen im Grundgesetz verändert: An die Stelle der „Goldenen Regel“ trat jetzt die „Schuldenbremse“, die auch zum Vorbild für den europäischen „Fiskalpakt“ wurde. Kurz vor ihrer Einführung hatte übrigens die Schuldenstandsquote einen neuen historischen Höchststand erreicht – eine Folge der großen Finanz- und Wirtschaftskrise, die mit keynesianischen Konjunkturprogrammen bekämpft wurde.

Bei der „Schuldenbremse“ wurde dabei versucht, die neoklassische und die keynesianische Sicht auf staatliche Defizite miteinander zu verbinden (sogenannter Neuer Konsens der Makroökonomik). So wird zwischen dem strukturellen und dem konjunkturellen Defizit unterschieden. Das strukturelle Defizit soll dauerhaft nahe Null sein, während das tatsächliche Defizit in konjunkturellen Schwächephasen vorübergehend größer sein darf. Weiterhin gibt es also Spielräume für eine keynesianische Stabilisierungspolitik. Für die Bewertung eines staatlichen Defizits ist jetzt die Frage entscheidend, ob es strukturell bedingt ist, das Defizit also trotz guter konjunktureller Situation vorliegt, oder ob es konjunkturell bedingt ist, es also mit einer konjunkturellen Schwächephase im Privatsektor gerechtfertigt werden kann. Über die Frage, ob das Defizit zu einem bestimmten Zeitpunkt eher strukturell oder eher konjunkturell bedingt ist, streiten eher neoklassisch und eher keynesianisch orientierte Ökonominnen weiterhin vehement.

Der Text „,In the long run …‘: Wirtschaftspolitische Ziele im Spiegel ihrer Zeit“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0

Die Abbildung „Wirtschaftspolitische Indikatoren in Westdeutschland, 1950–1974“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0 Quelle der Daten: Arbeitslosenquote: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf; Wachstumsrate des realen Pro-Kopf-BIP, Inflationsrate: Eigene Berechnung der Wachstumsraten anhand der Daten in Òscar Jordà, Moritz Schularick, and Alan M. Taylor. 2017. “Macrofinancial History and the New Business Cycle Facts.” in NBER Macroeconomics Annual 2016, volume 31, edited by Martin Eichenbaum and Jonathan A. Parker. Chicago: University of Chicago Press. Lizenz der Datenbank: CC BY-SA 4.0.

Die Abbildung „Wirtschaftspolitische Indikatoren in Westdeutschland, 1970–1990“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0 Quelle der Daten: Arbeitslosenquote: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf; Wachstumsrate des realen Pro-Kopf-BIP, Inflationsrate: Eigene Berechnung der Wachstumsraten anhand der Daten in Òscar Jordà, Moritz Schularick, and Alan M. Taylor. 2017. “Macrofinancial History and the New Business Cycle Facts.” in NBER Macroeconomics Annual 2016, volume 31, edited by Martin Eichenbaum and Jonathan A. Parker. Chicago: University of Chicago Press. Lizenz der Datenbank: CC BY-SA 4.0.

Die Abbildung „Verschuldung des Staates in Prozent des BIP, 1950-2022“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0 Quelle der Daten: Bis 2020: Òscar Jordà, Moritz Schularick, and Alan M. Taylor. 2017. “Macrofinancial History and the New Business Cycle Facts.” in NBER Macroeconomics Annual 2016, volume 31, edited by Martin Eichenbaum and Jonathan A. Parker. Chicago: University of Chicago Press. Lizenz der Datenbank: CC BY-SA 4.0. Ab 2020: AMECO Datenbank der EU-Kommission.