Wirtschaftliches Wachstum ist ein Begriff, der immer wieder auftaucht. Angemessenes und stetiges Wachstum ist sogar ein gesetzlich vorgeschriebenes Ziel der Wirtschaftspolitik. Doch was ist mit Wachstum aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht eigentlich gemeint? Und wo sind die Regeln festgeschrieben, mit denen man das Wachstum berechnen kann?

#VGR

Wenn Wirtschaftsforscherinnen von Wachstum sprechen, haben sie dabei in aller Regel das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Blick. Das BIP ist, bildlich gesprochen, der „von allen Bürgerinnen gebackene Kuchen“, also die Wirtschaftsleistung eines Landes, die im Laufe eines Zeitraums erbracht wird. Dieser „Kuchen“ besteht dabei aus allen möglichen Gegenständen (z. B. Autos, Möbeln, Maschinen, Gummibärchen, Waffen, Häuser, Haarspangen usw.) und Dienstleistungen (z. B. Autowaschen, Musikunterricht, Wartung von Maschinen, Haareschneiden, Bedienung im Restaurant usw.), die im Laufe eines betrachteten Zeitraums (z. B. ein Jahr) von den Bewohnerinnen eines Gebietes (z. B. der Bundesrepublik Deutschland) produziert und verkauft werden.

Das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland, 2005 bis 2022

Das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland, 2005 bis 2022 von Till van Treeck, Julian Becker, CC BY 4.0. Quelle der Daten: AMECO-Datenbank der EU-Kommission.

Wird dieser „Kuchen“ von einem betrachteten Zeitabschnitt zum nächsten größer, sprechen Wirtschaftsforscherinnen von Wachstum. Das Wachstum wird dabei meist als prozentuale Änderung im Vergleich zum vorigen Zeitabschnitt angegeben. In den Nachrichten ist dann beispielsweise von einem Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr die Rede. Das heißt: Der neue „Kuchen“ fällt um den Betrag größer aus, der 1,5 % der Wirtschaftsleistung des Vorjahres entspricht. Oder auch: Der neue „Kuchen“ hat die Größe von 101,5 % des „Vorjahreskuchens“.

Wachstum des BIP 2023 = \(\frac{\text{BIP}_{2023}-\text{BIP}_{2022}}{\text{BIP}_{2022}}\)

Wenn Größe und Veränderung (Wachstum) des Bruttoinlandsproduktes mit konkreten Zahlenwerten angegeben werden können, setzt das voraus, dass man sich auf klare Regeln zur Berechnung dieser Werte geeinigt hat. Diese Regeln bietet die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR). Im Rahmen der VGR haben sich Wirtschaftsforscherinnen auf bestimmte Definitionen geeinigt, mit deren Hilfe der volkswirtschaftliche „Kuchen“ beschrieben und vermessen werden kann. Die Entstehung und Weiterentwicklung dieser Definitionen hat lange gedauert und war dabei meist mit bestimmten politischen Zielen verbunden. Auch heute werden diese Regeln immer wieder geändert.

Hörtipp

Der Radiobeitrag „Vom Zauber einer Zahl: Die Erfindung des Wirtschaftswachstums“ geht auf die Entstehungsgeschichte des Bruttoinlandsproduktes ein. Im Beitrag wird deutlich: Die Vermessung der Wirtschaft ist immer von den politisch-historischen Rahmenbedingungen bestimmt.

Zur MP3-Datei des Beitrags auf der Seite des Deutschlandfunks.

Die Tatsache, dass die VGR von praktisch allen Wirtschaftsforscherinnen verwendet wird, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vertreterinnen verschiedener ökonomischer Perspektiven manchmal einen unterschiedlichen Blick auf wirtschaftliche Zusammenhänge haben und zu teilweise widersprüchlichen wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen kommen. Die meisten Wirtschaftsforscherinnen können sich zwar darüber einigen, „wie im Nachhinein (z. B. für das letzte Jahr) die Größe des wirtschaftlichen Kuchens gemessen werden kann. Sie sind sich auch darüber einig, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, den Kuchen zu beschreiben. Aber die Wirtschaftsforscherinnen haben unterschiedliche Rezepte darüber wie die Kuchenproduktion im nächsten Jahr verbessert wird, ob der Kuchen überhaupt weiter wachsen sollte, wie der Kuchen unter den beteiligten Personen verteilt werden soll und wie genau er verwendet werden soll (z. B. sofort essen, ins Ausland verkaufen oder einfrieren und für die Zukunft aufbewahren).“1

Diese und weitere Kontroversen werden uns in den folgenden Kapiteln begleiten. Zunächst beschäftigen wir uns mit den Begriffen und Definitionen der VGR, um eine gemeinsame Grundlage für das Verständnis von wirtschaftspolitischen Streits zu gewinnen.

Wie vergleicht man Kuchen? Das BIP im internationalen und zeitlichen Vergleich

Zwei weitere Aspekte können unsere bisherige Betrachtung des BIPs ergänzen. Sie sind vor allem wichtig, wenn es um internationale oder zeitliche Vergleiche geht. Zum einen ist auf den Unterschied zwischen dem BIP und dem Pro-Kopf-BIP hinzuweisen. Dabei gilt:

Pro-Kopf-BIP = \(\frac{\text{BIP}}{\text{Bevölkerungszahl}}\)

Das Pro-Kopf-BIP kann zum Beispiel herangezogen werden, um die wirtschaftliche Lage in verschiedenen Ländern miteinander zu vergleichen: Ein Beispiel dazu: Luxemburg hatte im Jahr 2019 ein BIP von gerade einmal rund 63 Milliarden Euro, während das deutsche BIP mit 3.427 Milliarden Euro ungefähr 60 Mal größer war. Dies lässt Luxemburg auf den ersten Blick als vergleichsweise schlecht entwickeltes Land erscheinen. Andererseits lebten in Luxemburg im Jahr 2019 aber auch nur ungefähr 630.000 Personen, während in Deutschland ungefähr 82,8 Millionen Menschen lebten – also rund 131 Mal so viel wie in Luxemburg. Dementsprechend war das Pro-Kopf-BIP in Luxemburg mehr als doppelt so groß wie das deutsche Pro-Kopf-BIP. Oder anders gesagt: Würde man den „Kuchen“ gleichmäßig auf alle verteilen (was in der Realität niemals gegeben ist), wären die Kuchenstücke pro Person in Deutschland deutlich kleiner als in Luxemburg, obwohl der deutsche Kuchen insgesamt viel größer ist.

H5P-Element „Pro-Kopf-BIP in ausgewählten Ländern, 2021“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Darüber hinaus muss das reale BIP vom nominalen BIP unterschieden werden. Diese Unterscheidung ist besonders dann wichtig, wenn man sich die Veränderung des BIP zwischen verschiedenen Zeitpunkten anschauen möchte, also beispielsweise das BIP des Jahres 2015 mit dem des Jahres 2016 vergleichen will.

Das Problem ist: Das nominale BIP lässt sich mit einigem Aufwand direkt beobachten: Es werden hierzu von Statistikbehörden (in Deutschland das Statistische Bundesamt) die Beträge zusammengerechnet, die für Käufe von Gütern und Dienstleistungen ausgegeben wurden.

Das reale BIP hingegen muss über einen Umweg ermittelt werden: Das Wachstum des nominalen BIP entspricht näherungsweise der Summe aus dem Wachstum des realen BIP und dem Anstieg des Preisniveaus (Inflation) in der betrachteten Volkswirtschaft. Wenn von einem Jahr auf das nächste nur das nominale BIP steigt, aber das reale BIP konstant bleibt, bedeutet das, dass lediglich die Preise der Güter und Dienstleistungen steigen (Inflation), aber in beiden Jahren die gleiche Menge an Gütern und Dienstleistungen in selber Qualität hergestellt bzw. erbracht werden. Wenn hingegen das reale BIP steigt, produziert das betrachtete Land tatsächlich mehr bzw. bessere Güter und Dienstleistungen als im Vorjahr. Wenn zum Beispiel das nominale BIP um drei Prozent steigt, und die Inflation gleichzeitig nur ein Prozent beträgt, steigt das reale BIP um etwa zwei Prozent. Bei Gütern und Dienstleistungen, die in zwei aufeinanderfolgenden Jahren in identischer Qualität ver- und gekauft werden, ist die Berechnung von Preisveränderungen unproblematisch. Wenn z. B. ein Smartphone verbessert wird, aber zum gleichen Preis wie das Vorgängerprodukt verkauft wird, wird dies statistisch als Preissenkung erfasst.“1

Wachstum nominales BIP ≈ Wachstum reales BIP + Inflationsrate

Bildlich gesprochen bedeutet ein Anstieg des realen BIP, dass der Kuchen tatsächlich größer oder besser wird. Den Effekt der Inflation (Anstieg des nominalen BIP bei konstantem realen BIP) kann man sich so vorstellen, als ob zur Messung eines gleich großen Kuchens verschiedene Lineale mit immer größerem Maßstab, also immer enger nebeneinanderstehenden Linien, verwendet würden. Ein sich so veränderndes Lineal zeigt zwar einen immer größeren Durchmesser des Kuchens an, tatsächlich bleibt der Kuchen aber exakt gleich groß. Während niemand auf die Idee käme, einen Kuchen mit Linealen zu messen, die unterschiedliche Maßstäbe haben, ändert sich in der Volkswirtschaft der verwendete Maßstab – das Preisniveau – fast jedes Jahr. Mit dem oben beschriebenen Verfahren versucht man, diesem Problem zu begegnen, damit die tatsächliche Größe des Kuchens (das reale BIP) gemessen werden kann.“1

Wachstumsraten des BIP in Deutschland, 2005 bis 2021

Wachstumsraten des BIP in Deutschland, 2005 bis 2021 von Till van Treeck, Julian Becker, CC BY 4.0. Quelle der Daten: AMECO-Datenbank der EU-Kommission.

Langfristig gesehen ist die wirtschaftliche Geschichte der vergangenen 150 Jahre in Deutschland von Wachstum geprägt. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat das reale Pro-Kopf-Wachstum im Durchschnitt etwa 1,8 bis 1,9 Prozent betragen. Ein solcher andauernder Wachstumsprozess führt dazu, dass jedes Jahr die zusätzliche „Kuchenmenge“, die hinzukommt, absolut gesehen immer größer wird: 2 Prozent von einem kleinen Kuchen sind schließlich weniger als 2 Prozent von einem sehr großen Kuchen. Ein solches kumulatives Wachstum bedeutet bereits innerhalb einer Generation (30 Jahre) eine erheblich größere Wirtschaftsleistung (dem Phänomen des kumulativen Wachstums widmen wir uns im nächsten Lernabschnitt). Ob Wachstumsraten in dieser Höhe aber auch in Zukunft zu erwarten sind, darüber wird unter Wirtschaftsforscherinnen kontrovers gestritten.

1 Die gekennzeichneten Textstellen sind Ausschnitte aus: Till van Treeck für bpb.de: Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, CC BY-SA 4.0. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts.

Der Text im Lernabschnitt „Das Bruttoinlandsprodukt: Was wächst eigentlich, wenn „die Wirtschaft“ wächst?“ von Julian Becker, Till van Treeck ist lizenziert unter CC BY-SA 4.0 Enthält Ausschnitte aus dem Text von Till van Treeck für bpb.de „Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“, der ebenfalls unter CC BY-SA 4.0 veröffentlicht ist.

Die Abbildung „Das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland, 2005 bis 2022“ von Till van Treeck, Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: AMECO-Datenbank der EU-Kommission.

H5P-Element „Pro-Kopf-BIP in ausgewählten Ländern, 2021“: Quellen- und Lizenzangaben zu den Abbildungen unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Image Sequencing“ steht unter einer GNU General Public License v3.0.

Die Abbildung „Wachstumsraten des BIP in Deutschland, 2005 bis 2021“ von Julian Becker, Till van Treeck ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: AMECO-Datenbank der EU-Kommission.