Kritikerinnen des BIP plädieren dafür, dass die Wirtschaftspolitik sich weniger stark am BIP und dessen Wachstum ausrichten sollte. Deshalb haben sie viele alternative Kennzahlen entwickelt, die herangezogen werden können. Zwei dieser Kennzahlen werden hier knapp vorgestellt, die Kritikpunkte aus den Texten oben aufgreifen.

NWI – Nationaler Wohlfahrtsindex

„Der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) wurde 2009 von einer Projektgruppe um Hans Diefenbacher (Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft/Institut für interdisziplinäre Forschung Heidelberg) und Roland Zieschank (Forschungszentrum für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin) im Auftrag des Deutschen Umweltbundesamts ausgearbeitet.[…]

Der NWI versteht sich als Korrektur und Erweiterung des BIP, das als Maßzahl ‚illusionären Wohlstands‘ […] Wirtschaftspolitik zusehends in die falsche Richtung lenke. Der NWI soll diesen Umstand deutlich machen und zugleich Instrument für eine ‚Politik nachhaltiger Wohlfahrtssteigerung‘ sein, das konkrete, wissenschaftlich und demokratiepolitisch gestützte Zielsetzungen nachhaltiger Entwicklung in ein kohärentes, monetäres Kennzahlensystem integriert. […]

Der Nationale Wohlfahrtindex (NWI) gilt als ‚umfassend monetärer Ansatz‘, der einerseits innerhalb der Systematik der VGR bzw. des BIP bleibt, andererseits dazu beitragen soll, dass die üblicherweise nicht erfassten sozialen und ökologischen Kosten und Kapitale ‚nicht in der Verwertungsreichweite eines allein an ökonomischen Zielen orientierten Wirtschaftens belassen werden. ‘[…] ‚Wohlfahrt‘ wird dabei umfassend ‚verstanden als die Gesamtheit der materiellen und der immateriellen Komponenten von ‚Wohlstand‘ und ‚Wohlergehen‘, die aus dem verfügbaren Reichtum eines Landes an wirtschaftlichem Kapital, natürlichem Kapital und sozialem Kapital erhalten werden.‘[…]

Ausgangsgröße für die Berechnung des NWI ist […] der inländische, gewichtete private Konsum. Hier dient der Gini-Index als Gewichtungsfaktor. Dies basiert auf der Annahme, dass zusätzliches Einkommen für ärmere Haushalte wertvoller ist, als es für reichere Haushalte ist. […] Der gesamte Index besteht aus 20 Einzelkomponenten […]:

Einzelkomponenten des NWI

+/- Komponente
Privater Konsum, gewichtet nach dem Gini-Index der Einkommensverteilung – basierend auf wohlfahrts- & grenznutzentheoretischer Annahme vom ‚abnehmenden Grenznutzen des Einkommens‘
+ Wert der Hausarbeit – berechnet lt. Zeitverwendungsstatistik × Nettolohn eines Hauswirtschafters
+ Wert der ehrenamtlichen Arbeit […]
+ Öffentliche Ausgaben für Gesundheits- und Bildungswesen — 50 % dieser Ausgaben […] werden als wohlfahrtssteigernd angenommen
+ / – Kosten und Nutzen dauerhafter Konsumgüter — korrigiert Auseinanderfallen der einmaligen Ausgaben für dauerhafte Konsumgüter & ihre nachfolgende Nutzung
Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte — wird als nicht unmittelbar wohlfahrtsstiftende ‚verlorene Lebenszeit‘ aufgefasst
Kosten durch Verkehrsunfälle — zu anderen Unfallarten ‚keine belastbaren Daten‘
Kosten durch Kriminalität — nur gemeldete & best. Arten von Kriminalität & deren lt. Kriminalstatistik verursachte Schäden
Kosten des Alkohol-, Tabak- und Drogenkonsums — sind als exemplarische „Reparaturkosten“ zu verstehen, keine Daten zu Medikamenten, Spiel- & Internetsucht
Gesellschaftliche Ausgaben zur Kompensation von Umweltbelastungen — Kosten für Reparatur, Verringerung oder Vermeidung von Umweltschäden
Kosten durch Wasserbelastungen — geminderte Wasserqualität & ökolog. Gewässergüte bringt Reparaturkosten z. B. bei Trikwasseraufbereitung mit sich — konstanter Merkposten
Kosten durch Bodenbelastungen — theoretisch berücksichtigt Rückgang der Bodenbiodiversität, Verdichtung, Kontamination, Erosion, Versalzung, Rückgang des Anteils organischer Materie, Versiegelung, Erdrutsche, Versauerung, Wüstenbildung — konstanter Merkposten
Schäden durch Luftverschmutzung — berücksichtigt Luftschadstoffe & Feinstaub mit externen Kosten hins. Gesundheit, Bauten, Vegetation & Biodiversität
Schäden durch Lärm — ohne Berücksichtigung von Vermeidungs- & Reparaturkosten
+ / – Verlust bzw. Gewinn durch Biotopflächenänderungen — Ziel dabei v. a. Erfassung der ‚Veränderungen biolog. Vielfalt‘ — konstanter Merkposten
+ / – Schäden durch Verlust von landwirtschaftlich nutzbarer Fläche — durch Wertänderungen auch positiv bewerteter Flächenverlust möglich
Ersatzkosten durch Verbrauch nicht erneuerbarer Energieträger — Kosten zur Herstellung erneuerbarer Energien & Ersatzkapazität wird zum Zeitpunkt des Ressourcenverbrauchs abgezogen
Schäden durch Treibhausgase — berücksichtigt sechs Treibhausgase lt. Kyoto-Protokoll, umgerechnet in CO2-Äquivalente
Kosten der Atomenergienutzung – Kosten für Endlagersuche, Entsorgung, Rückbau/Stillegung & Versicherung
= NWI

[Es] wurden im Zuge der Erarbeitung des NWI 2.0 auch bereits erste Zeitreihenberechnungen für die Entwicklung des deutschen NWI im Vergleich zum BIP von 1991 bis 2010 durchgeführt (vgl. ebd. : 10f). Sie zeigen u. a., dass sich BIP und NWI ab 2000 deutlich auseinander entwickelt haben, dass der NWI (wie z. B. 2009) wächst, wenn das BIP schrumpft und somit auch Umweltkosten sinken, dass er aber auch mit dem BIP wachsen kann, wenn dieses Wachstum (wie bspw. 2010) gering und von Zuwächsen bei Hausarbeit & Ehrenamt begleitet ist.“

Gekürzter und überarbeiteter (Komponenten als Tabelle dargestellt) Ausschnitt aus: Raith, Dirk: NWI – Nationaler WohlfahrtsindexCC BY-NC 4.0.

Reales BIP und NWI in Deutschland im Vergleich

H5P-Element „Phasen der Entwicklung von BIP und NWI zwischen 1991 und 2021“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

In einer Folge des Wirtschafts-Podcasts „Systemrelevant“ besprechen der Podcast-Gastgeber Marco Herack und Prof. Sebastian Dullien, Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), die Kritik am BIP und gehen auf den NWI und das neue magische Viereck ein:

Hörtipp

H5P-Element „Systemrelevant Folge 20: Wohlstandsindikatoren – Das BIP und seine Alternativen“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

HPI – Happy Planet Index

„Der Happy Planet Index (HPI) wurde 2006 von der britischen new economics foundation (nef) als ‚headline indicator‘ für gesellschaftlichen Fortschritt entwickelt. […] [Er soll] als ‚Effizienzmaß‘ darüber Auskunft geben […], wie viele glückliche Lebensjahre mit einem bestimmten Ressourceninput aktuell ‚produziert‘ werden.

Der Happy Planet Index (HPI) […] beschränkt sich auf ganz wenige essentielle Aspekte des Wohlbefindens (‚measuring what matters‘), kommt dabei ohne klassische ökonomische Kennzahlen aus und präsentiert sich damit als alternatives, wirklich universell anwendbares Vergleichsmaß für die Leistungsfähigkeit einer Regierung ‚to produce happy, healthy lives now and in the future‘[…] – eine Zielsetzung, von der arme und reiche Länder aus unterschiedlichen Gründen noch jeweils relativ weit entfernt sind, weil Wirtschaftswachstum Lebensglück nur eingeschränkt positiv, Nachhaltigkeit dagegen massiv negativ beeinflusst – auch darauf will der HPI hinweisen.

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Video „Nic Marks: Der Happy Planet Index“ von © TED. Diese Version des Videos ist nicht unter einer CC-Lizenz veröffentlicht und wird von youtube.com eingebettet.

Der HPI vereint wenige, objektive und subjektive, ökonomische, soziale und ökologische Kennzahlen zu einem Effizienzmaß dafür, wie viele lange und glückliche Menschenleben auf einer bestimmten Fläche mit welchem Aufwand an natürlichen Ressourcen ‚produziert‘ werden können.

Rechnerisch ergibt sich der HPI als Quotient aus einer Indexzahl für ‚glückliche Lebensjahre‘ [in der aktuellen Fassung erweitert um einen Ungleichheitsfaktor, der die ungleiche Verteilung Verteilung der Lebenserwartung und der Lebenszufriedenheit einfließen lässt] und dem EFP – Ecological Footprint:

HPI = \(\frac{\text{subj.Wohlbefinden × Lebenserwartung × Ungleichheitsfaktor​}}{\text{ökologischer Fußabdruck}}\)

Der HPI lässt sich entweder als standardisierter Index auf einer Skala von 0-100 ausgeben, oder als graphischer Plot aus glücklichen Lebensjahren (meist y-Achse) und ökologischem Fußabdruck (meist x-Achse). Für jede der Komponenten gibt es nahezu weltweit verfügbare, in einheitlicher Form erhobene Daten: Subjektives Wohlbefinden wird aktuell mit dem Instrument ‚Ladder of Life‘ der Gallup World Poll erhoben, welche die Zufriedenheit mit der persönlichen Lebenssituation insgesamt, auf einer Skala von 0-10, messen soll. Daten zur Lebenserwartung entstammen dem UNDP Human Development Report. Der ‚ökologische Fußabdruck‘ wird nach der Methode und auf Basis der Daten des WWF berechnet. Aktuell lässt sich der HPI auf Basis dieser Daten für mehr als 150 Länder berechnen und vergleichen.“

Gekürzter und aktualisierter (Formel zur Berechnung des HPI) Ausschnitt aus: Raith, Dirk: HPI – Happy Planet IndexCC BY-NC 4.0.

H5P-Element „HPI und BIP pro Kopf, 2019“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Der Text „NWI – Nationaler Wohlfahrtsindex“ in diesem Lernabschnitt ist eine gekürzte und überarbeitete (Formatierung der Komponenten als Tabelle) Fassung des Originals von Dirk Raith/ImZuWi und lizenziert unter CC BY-NC 4.0.

Der Text „HPI – Happy Planet Index“ in diesem Lernabschnitt ist eine gekürzte und überarbeitete (Formatierung der Komponenten als Tabelle) Fassung des Originals von Dirk Raith/ImZuWi und lizenziert unter CC BY-NC 4.0.

Die Abbildung „Reales BIP und NWI in Deutschland im Vergleich“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten:NWI-Daten: Benjamin Held, Dorothee Rodenhäuser, Hans Diefenbacher: NWI 2021 – Rückgang der Wohlfahrt in der Corona-Pandemie, Institut für Makroökonomie und Konjunturforschung (IMK) 2022, Policy Brief 115; BIP-Daten: AMECO-Datenbank der EU-Kommission.

H5P-Element „Phasen der Entwicklung von BIP und NWI zwischen 1991 und 2021“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Accordion“ steht unter einer MIT-Lizenz.

Das Video „Nic Marks: Der Happy Planet Index“ von © TED ist nicht unter einer CC-Lizenz veröffentlicht und wird von youtube.com eingebettet. Hier findest du eine Fassung des Videos unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0.

H5P-Element „HPI und BIP pro Kopf, 2019“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Agamotto“ steht unter einer MIT-Lizenz.

H5P-Element „„Systemrelevant Folge 20: Wohlstandsindikatoren – Das BIP und seine Alternativen“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Audio“ steht unter einer MIT-Lizenz.