Das Bruttoinlandsprodukt gerät immer wieder in die Kritik. Manche Wirtschaftsforscherinnen gehen davon aus, dass das BIP „blinde Flecken“ hat und deshalb manches übersieht. Der folgende Text erläutert Teile dieser Kritik.

„Da im BIP ja alles, was einen Preis hat, auch Wert hat (aber nicht umgekehrt), ergibt sich das Problem, dass weitestgehend ausgeblendet wird, was 1) keinen Preis hat oder 2) statt Nutzen Schaden stiftet (bzw. diesen höchstens ausgleicht).

[AD 1] Nur was einen Preis hat, hat auch Wert. ÖkonomInnen sprechen hier von der ‚Produktionsgrenze‘ (‚production boundary‘), die definiert, was aus dem Universum an wirtschaftlichen Tätigkeiten letztlich als Beitrag zur Wertschöpfung berücksichtigt werden soll. Diese Grenze ist zwar ausdrücklich pragmatisch begründet, fließend und sie verschiebt sich laufend […]. Zugleich definiert sie, was Wirtschaft ‚eigentlich‘ ist oder sein soll – mit ganz realen, weitreichenden Konsequenzen.

Unbezahlte Hausarbeit fließt bspw. nicht in die Wertrechnung ein – obwohl unter ÖkonomInnen wenigstens ihr indirekter Beitrag zur (Mehr-)Wertschöpfung aus Lohnarbeit allgemein anerkannt ist. Allgemein gilt das für Eigen- oder Subsistenzproduktion, deren Anteil bis heute als Indikator der (Unter-)Entwicklung einer Wirtschaft betrachtet wird: Je mehr Markt (und je größer, anonymer und komplexer die Abhängigkeiten), desto ‚entwickelter‘ soll eine Wirtschaft demnach sein. Daraus spricht zum einen eine Geringschätzung gegenüber ‚primitiven‘, haus- oder subsistenzwirtschaftlichen, traditionell meist weiblichen Ökonomien – zeitgemäßere Ansätze der Entwicklungsökonomik, aber v. a. feministische Ansätze […] möchten diese ‚verkehrte‘ und totalitäre Sichtweise korrigieren.

Mit der Entwertung solcher Tätigkeiten ist aber auch die praktische, wirtschaftspolitische Zielsetzung verbunden, diese ‚unproduktiven‘ Bereiche in den Markt zu integrieren – sie zu verwerten: mit dem Effekt, dass Eigen- in Lohnarbeit, Güter in Waren, Haushalte zu Konsumeinheiten verwandelt, das arbeitsteilige System geldabhängiger Produktion und Konsumtion vergrößert und damit zu guter Letzt das BIP gesteigert wird – auch wenn mit alledem kein realer Nutzenzuwachs verbunden sein muss, nur weil plötzlich Geld ins Spiel kommt. […] Arthur Cecil Pigou, bedeutender Vertreter der klassischen Wohlfahrtsökonomik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hat diesen paradoxen Sachverhalt in eine humorige Parabel verpackt: ‚Wenn ein Mann seine Haushälterin heiratet oder seine Köchin, verringert sich das Volkseinkommen.‘ […]

„Unser Bruttosozialprodukt beläuft sich heute auf über 800 Milliarden Dollar pro Jahr, aber dieses Bruttosozialprodukt – wenn wir die Vereinigten Staaten von Amerika danach beurteilen – dieses Bruttosozialprodukt umfasst Luftverschmutzung und Zigarettenwerbung sowie Krankenwagen, die unsere Autobahnen von Blutbädern befreien. Es berücksichtigt besondere Schlösser für unsere Türen und die Gefängnisse für die Menschen, die sie aufbrechen. Es beinhaltet die Zerstörung der Mammutbäume und den Verlust unserer Naturwunder durch chaotische Zersiedlung. Es berücksichtigt Napalm und nukleare Sprengköpfe und Panzerwagen für die Polizei, um die Unruhen in unseren Städten zu bekämpfen. […] Doch das Bruttosozialprodukt lässt die Gesundheit unserer Kinder, die Qualität ihrer Ausbildung und die Freude am Spiel unberücksichtigt. Es beachtet nicht die Schönheit unserer Poesie oder die Stärke unserer Ehen, die Intelligenz unserer öffentlichen Debatte oder die Integrität unserer Amtsträger. Es misst weder unseren Witz noch unseren Mut, weder unsere Weisheit noch unser Lernen, weder unser Mitgefühl noch unsere Hingabe an unser Land, es misst kurz gesagt alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht.“

Robert Kennedy, 1968 (eigene Übersetzung)

Auch der Wert von Freizeit oder Muße, den ein Produktionssystem erwirtschaftet, spielt im BIP keine Rolle. Diesen Wert zu erfassen oder überhaupt als wirtschaftliche Zielgröße zu bestimmen, erscheint vielleicht auf den ersten Blick ‚verkehrt‘, weil wir doch mit Wirtschaft gewöhnlich und zunehmend die Produktion von Arbeit (und Konsum) verbinden […]. Die Befreiung des Menschen vom Arbeitszwang war indes ein zentrales Ziel der modernen Ökonomik – spätestens seit John Stuart Mill, und auf jeden Fall noch bis John Maynard Keynes: Er stellte sogar ‚3-Stunden-Schichten‘ noch für unsere Generation in Aussicht. […]

‚Blinde Flecken‘ gibt es aber nicht nur im Bereich menschlicher Arbeit, sondern auch bei der Wertschätzung der Natur. Ein Eigenwert von Natur – die Schönheit eines alten Baums, die Intaktheit eines Ökosystems, das Lebensrecht einer Kreatur – ist aus ökonomischer Sicht schlicht sinnlos, solange er sich nicht bepreisen, d. h. in einen Geldwert übersetzen lässt. ‚Produktiv‘ im ökonomischen Sinn wird Natur überhaupt erst, wenn sie verwertet, d. h. (üblicherweise gewaltsam) privat angeeignet, zum ‚Produktionsfaktor‘ verwandelt und bearbeitet wird.[…][AD 2] Aus der mangelnden oder fehlenden ökonomischen Wertschätzung reproduktiver Arbeit und produktiver Natur ergibt sich ein weiteres, nicht minder gravierendes Problem: Das ist das Problem des negativen Nutzens, des Unwerts oder des Schadens, den ein wirtschaftliches Handeln hervorruft oder den es lediglich behebt – der aber, insofern er bezahlt werden muss, wiederum als positiver Beitrag zur Wertschöpfung verbucht wird. Am absurdesten erscheint in diesem Zusammenhang vielleicht das Phänomen, dass Kriege oder Katastrophen zur Wertschöpfung beitragen. Das tun sie tatsächlich, indes nicht unterschiedslos und meist nicht für den unmittelbar betroffenen Raum. […] Die Kosten für Zerstörung und Wiederaufbau erhöhen das BIP zunächst vielmehr anderswo. Im Krieg bspw. profitiert die Rüstungsindustrie, die anderswo Zerstörung bewirkt – aber der entscheidende Punkt im Kontext der Wertrechnung ist: Militärausgaben erhöhen das BIP – ursprünglich, als ‚Staatsausgaben‘ verbucht, lediglich im Jahr der Anschaffung, neuerdings, als ‚Investitionen‘ erfasst, erhöhen sie über die Abschreibungen das BIP auch in den Folgejahren. […]

Hörtipp

„MEINE WELT UND DAS GELD: Warum nütze ich dem BIP, wenn ich mir ein Bein breche?“ Radiobeitrag von Maike Brzoska/BR. Dieser Beitrag wird von der Homepage des BR eingebettet und steht nicht unter einer CC-Lizenz.

Nicht nur Produktion und Konsum offensichtlich schädlicher ‚Ungüter‘, auch die steigenden ‚Reparaturkosten‘, um individuell u. a. die Externalitäten unserer Wohlstandsgesellschaft abzufedern, fließen unmittelbar wertschöpfend ins BIP ein. Dabei handelt es sich um so alltägliche Dinge wie bspw. Arzt-, Anwalts-, Psychiater- oder auch (auch illegale) Bordellbesuche, deren ökonomische Bewertung sich indes nicht weniger schwierig gestaltet – wo der Bedarf nach diesen Dienstleistungen doch indirekt eher auf Leid, Beschädigungen, Mangel oder Dysfunktionalitäten einer Gesellschaft hinweisen, die dadurch bestenfalls ausgeglichen werden könnten. Ein effektiver ‚Netto-Nutzenzuwachs‘ ist damit also nur selten verbunden.“

Der Text im Lernabschnitt „Das BIP: Eine Zahl mit blinden Flecken?“ ist ein gekürzter Ausschnitt aus: „Blinde Flecken? Das BIP reduziert Ökonomie radikal“ von Dirk Raith auf imzuwi.org und ist lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0

Der Ausschnitt aus der Rede „Remarks at the University of Kansas“ von Robert F. Kennedy ist eine eigene Übersetzung des Originals, das gemeinfrei ist.

„MEINE WELT UND DAS GELD: Warum nütze ich dem BIP, wenn ich mir ein Bein breche?“ Radiobeitrag von Maike Brzoska/BR. Dieser Beitrag wird von der Homepage des BR eingebettet und steht nicht unter einer CC-Lizenz. ©