Bearbeiteter Ausschnitt aus „Debate Logo“ von dnet, CC BY-SA 3.0, via Wikipedia.

Oben haben wir gesehen, dass Vertreterinnen von Neoklassik und Keynesianismus und somit auch die Verfechterinnen von angebots- bzw. nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik eine recht unterschiedliche Sicht auf wirtschaftspolitische Fragen haben. Diese unterschiedliche Sicht lässt sich an drei typischen Streitpunkten weiter verdeutlichen.

#(Post)Keynesianismus #Neoklassik

Streitpunkt 1: Sparen und Investieren

Die Neoklassik geht davon aus, dass es nicht über einen längeren Zeitraum zum keynesianischen Sparparadox kommt. Zwar kann es sein, dass die privaten Haushalte vermehrt Ersparnisse bilden möchten (z. B. für die Altersvorsorge oder aus anderen Vorsichtsmotiven), diese stehen dann aber nach neoklassischer Logik den privaten Unternehmen zur Verfügung, um Kredite aufzunehmen und zu investieren.

Aus neoklassischer Sicht wird der Finanzmarkt mittelfristig dafür sorgen, dass die Geldersparnisse der privaten Haushalte von den privaten Unternehmen beispielsweise in Form von Krediten aufgenommen und zur Finanzierung von realwirtschaftlichen Investitionen verwendet werden. Wenn die Haushalte, aus welchen Gründen auch immer, mehr sparen wollen, steigt das Angebot für Finanzierungsmittel auf dem Finanzmarkt im Vergleich zur Nachfrage. Das führt zu einem Rückgang des Zinses, dem „Preis“ für Ersparnisse und Investitionen. Ein niedrigerer Zins wiederum regt die Unternehmen an, mehr Kredite aufzunehmen und mehr zu investieren. Der Finanzmarkt funktioniert also aus neoklassischer Sicht ganz ähnlich wie der Gütermarkt oder der Arbeitsmarkt nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, welche durch Preise koordiniert werden.

Durch die zusätzlichen Investitionen der Unternehmen werden dann wiederum Arbeitsplätze und Einkommen geschaffen. Eine „Krisenspirale“ kommt also gar nicht in Gang, weil die Ersparnisbildung zu einem Anstieg der Investitionen führt. Es gibt daher aus neoklassischer Sicht keine Rechtfertigung für (länger anhaltende) staatliche Haushaltsdefizite zur Stärkung der Nachfrage. Vielmehr wird in der Neoklassik davon ausgegangen, dass höhere staatliche Ausgaben für Konsum und Investitionen letztlich zu Lasten privater Konsum- und Investitionsausgaben gehen müssen. Das bedeutet, dass der Multiplikator gleich Null oder zumindest sehr klein ist. Wenn das BIP längerfristig steigen soll, muss daher nach neoklassischer Sichtweise an der Angebotsseite angesetzt werden.

Die Angebotsorientierung der Neoklassik und ihre Vernachlässigung der Nachfrageseite kommt auch im so genannten Say’schen Theorem (nach dem französischen Ökonomen Jean-Baptiste Say, 1767-1832) zum Ausdruck: „Das Angebot schafft sich seine eigene Nachfrage“. Damit ist gemeint, dass die Güter, die produziert werden, immer auch nachgefragt werden: Bei der Produktion entstehen automatisch Einkommen, die den gleichen Wert haben wie die Produktion. Diese Einkommen werden von den Wirtschaftssubjekten entweder unmittelbar für die Nachfrage von Gütern und Dienstleistungen verwendet (Konsum und Investitionen), oder sie bilden Geldersparnis (Bankguthaben, Wertpapier usw.). Wenn sie gespart wird, werden sie über den Finanzmarkt anderen Wirtschaftssubjekten zur Verfügung gestellt, die hiermit ihre Investitionen finanzieren können. Eine allgemeine Nachfrageschwäche tritt es daher laut Say’schem Theorem nicht auf.

Keynesianische Ökonomeninnen lehnen das Say’sche Theorem und die neoklassische Interpretation des Zusammenhangs von gesamtwirtschaftlichem Sparen und Investieren im Wesentlichen deswegen ab, weil sie nicht darauf vertrauen, dass vermehrte Ersparnis über den Finanzmarkt zu mehr Investitionen führt. Vielmehr sprach John Maynard Keynes davon, dass die Investitionsentscheidungen der Unternehmerinnen von deren „animalischen Gefühlen“ (animal spirits) getrieben werden, weil sie unter fundamentaler Unsicherheit stattfinden.

Wenn die Unternehmerinnen weniger investieren, fällt hierdurch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, dadurch entstehen insgesamt weniger Einkommen, und daher kann schließlich auch weniger gespart werden.

Jean-Baptiste Say (1767-1832), gemeinfrei, via Wikimedia Commons. Der Wirtschaftsforscher Say ist der Begründer des gleichnamigen Theorems.

Streitpunkt 2: Staatsausgaben als sinnvolles wirtschaftspolitisches Instrument?

Eine typische keynesianisch inspirierte wirtschaftspolitische Empfehlung lautet, dass in Zeiten einer schwachen privaten Binnennachfrage (privater Konsum und private Investitionen), die mit anhaltender Arbeitslosigkeit einhergeht, der Staat durch vermehrte Ausgaben die Nachfrage ankurbeln sollte, damit die Beschäftigung hochgehalten werden kann.

Hierfür wäre aus keynesianischer Sicht kurzfristig auch ein Anstieg der staatlichen Neuverschuldung hinzunehmen. Nach keynesianischer Logik führen höhere staatliche Ausgaben sogar zu einem überproportionalen Anstieg des BIP. Denn wenn der Staat seine Ausgaben erhöht (z. B., indem er zusätzliche Lehrerinnen einstellt), steigen hierdurch nach keynesianischer Logik die Einkommen der privaten Wirtschaftssubjekte (z. B. der Lehrerinnen). Wenn dies dazu führt, dass auch die privaten Ausgaben steigen (z. B. die Lehrerinnen leisten sich neue Möbel), werden hierdurch automatisch weitere private Einkommen generiert (z. B. bei den Schreinerinnen), die wieder zu neue Ausgaben führen (z. B. Schreinerinnen kaufen sich neue Autos), damit zu weiteren Einkommen (z. B. bei den Aktionärinnen und Beschäftigten der Autoindustrie) usw. Diesen Mechanismus bezeichnet man auch als keynesianischen Multiplikator.

In einem typisch neoklassischen Szenario ist das keynesianische Rezept höherer Staatsausgaben zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hingegen zum Scheitern verurteilt, weil hier das BIP nicht ohne weiteres steigen kann, wenn die Nachfrage ausgeweitet wird. Der Grund sind Probleme auf der Angebotsseite der Volkswirtschaft: So kann es beispielsweise sein, dass Arbeitslose nicht über die nötigen Qualifikationen verfügen, die für eine Ausweitung der Produktion nötig wären. Wenn gleichzeitig die Mindestlöhne so hoch und die Gewerkschaften so mächtig sind, dass die Unternehmen hohe Löhne zahlen müssen, kann die hierdurch verursachte Arbeitslosigkeit mit einer höheren Güternachfrage nicht überwunden werden: Das BIP ist auf der Angebotsseite begrenzt. Es kommt dann auf kurz oder lang zu immer höherer Inflation, weil die Arbeitnehmerinnen bzw. ihre Gewerkschaften immer höhere Löhne fordern und die Unternehmen daraufhin die Preise erhöhen.

H5P-Element „Der Multiplikatoreffekt – einfach erklärt“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element.

Streitpunkt 3: Verteilungspolitik

Einige keynesianisch orientierte Ökonominnen argumentieren, dass die Verteilung der Einkommen einen Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage hat. Erinnern wir uns an die Verteilungsrechnung des BIP:

BIPV = W + Π
BIPV = Bruttoinlandsprodukt (Verteilungsseite)
W = Löhne (von „wages“ (engl.))
Π = Gewinne (griech. Pi für „Profite“)

Das keynesianische Argument lautet, dass Personen mit relativ geringem materiellem Lebensstandard einen größeren Anteil ihres Einkommens für den Konsum ausgeben als Personen mit relativ hohem Lebensstandard, deren Bedürfnisse schon weitgehend gesättigt sind. Deswegen wird manchmal für Maßnahmen plädiert, die zu höheren Löhnen (zu Lasten der Gewinne) und zu einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung führen (z. B. Stärkung der Gewerkschaften, höherer Mindestlohn, höhere Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen). Diese Sichtweise bildet einen Kontrast zur neoklassischen Position, wonach zu hohe Löhne und zu mächtige Gewerkschaften die Angebotsbedingungen für die Unternehmen verschlechtern, weil so zum Beispiel zu strikte arbeitsrechtliche Regulierungen durchgesetzt werden.

Aus keynesianischer Sicht kann durch einen Anstieg der Löhne die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gestärkt werden (was letztlich sogar den Unternehmen zu Gute kommt, vgl. Kostenparadox).

Aus neoklassischer Sicht hingegen kann eine überzogene Umverteilungspolitik die Unternehmen derart stark mit hohen Lohnkosten oder Steuern belasten, dass die Ausweitung bzw. Verbesserung der Produktion (das Backen eines größeren und besseren Kuchens) verhindert wird und dass eine so genannte Hochlohnarbeitslosigkeit entsteht. Steigende Reallöhne pro Arbeitnehmerin oder pro gearbeiteter Stunde müssen daher aus neoklassischer Sicht nicht zu einem Anstieg der Lohneinkommen insgesamt führen, wenn der Lohnanstieg zu einem entsprechenden Anstieg der Arbeitslosigkeit führt (und somit die Lohneinkommen der nun Arbeitslosen vernichtet). Vielmehr sollten sich aus neoklassischer Sicht die Reallöhne aus dem freien Spiel der Marktkräfte auf dem Arbeitsmarkt ergeben, so dass es hier zu einem Vollbeschäftigungsgleichgewicht kommt.

Immer nur Streit?

Die meisten neoklassisch orientierten Ökonominnen gehen zwar davon aus, dass langfristig möglichst flexible Arbeits- und Finanzmärkte besser für eine niedrige Arbeitslosigkeit und einen großen Wohlstand sorgen als eine von staatlicher Steuerung geprägte Wirtschaft. Dennoch sehen auch sie die Möglichkeit, dass in besonderen Ausnahmefällen beispielsweise staatliche Ausgabensteigerungen hilfreich sein können, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stabilisieren. Sie befürchten jedoch, dass ein zu großer Einfluss des Staates längerfristig zu Ineffizienzen führt, etwa, weil die staatliche Ausgabenpolitik zu stark von politischem Klienteldenken getrieben wird oder weil der politische Prozess zu langsam ist, um rechtzeitig und passgenau Nachfrageschwankungen im privaten Sektor auszugleichen.

Zugleich lässt sich die keynesianische Theorie typischerweise als nachfrageorientiert einordnen. Dies bedeutet aber nicht, dass angebotsseitige Aspekte keine Rolle spielen. So ist es beispielsweise auch aus keynesianischer Perspektive ratsam, dass der Staat im Rahmen seiner Ausgabenpolitik solche Maßnahmen bevorzugt durchführt, welche sich positiv auf die Produktivität der Volkswirtschaft auswirken (z. B. Investitionen in die Infrastruktur oder das Bildungsniveau der Bevölkerung).

Ebenfalls ist denkbar, dass je nach Land und je nach historischer Situation ökonomische Probleme wie Arbeitslosigkeit eher durch neoklassische oder durch keynesianische Rezepte behoben werden können. Hierüber kommt es in der Wissenschaft wie in der Politik immer wieder zu heftigen Kontroversen.

J. M. Keynes und einer seiner einflussreichsten Widersacher, der Ökonom F. A. Hayek, tauschen ihre Argumente in einem Rap-Battle aus. Video „Fear the Boom and Bust: Keynes vs. Hayek – The Original Economics Rap Battle!“ von © Emergent Order. Das Video ist nicht unter einer CC-Lizenz veröffentlicht und wird hier von youtube.com eingebettet.

Der Text „Wer hat recht? Streitpunkte zwischen Angebots- und Nachfrageorientierung“ von Till van Treeck und Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0.

H5P-Element: „Postkeynesianismus“. Quellen- und Lizenzangaben unter „Rights of use“ im H5P-Element. Der H5P-Inhaltstyp „Course Presentation“ steht unter einer MIT-Lizenz.

Das Video „Fear the Boom and Bust: Keynes vs. Hayek – The Original Economics Rap Battle“ von © Emergent Order ist nicht unter einer CC-Lizenz veröffentlicht und wird von youtube.com eingebettet.