In diesem Kapitel hast du gesehen, dass Wirtschaftsforscherinnen teilweise recht unterschiedliche Auffassungen dazu haben, welche Wirtschaftspolitik empfehlenswert ist. Doch woran liegt es eigentlich, dass es diese Meinungsunterschiede gibt? Um diese Frage zu beantworten muss man sich ein paar Gedanken dazu machen, welchen Charakter die Wirtschaftswissenschaft eigentlich hat.

Was ist der Charakter der Wirtschaftswissenschaft? Gibt es überhaupt Meinungsunterschiede zwischen Wissenschaftlerinnen, die der Rede wert sind? Lassen sich Wissenschaft und Politik eigentlich voneinander trennen? Zu diese Fragen gibt es bei Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen und Journalistinnen sehr unterschiedliche Ansichten. Manche sehen in der Ökonomik eine exakte Wissenschaft, ähnlich den Naturwissenschaften. Andere betonen den ideologischen Charakter der Wirtschaftswissenschaft und die engen Verbindungen zu politischen Überzeugungen und Interessen. Diese Vielfalt der Positionen belegen die folgenden Zitate.

Das erste Zitat stammt aus dem verbreiteten Lehrbuch „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“. Es wurde von den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern N. Gregory Mankiw und Mark P. Taylor verfasst. Im Zitat gehen sie auf die Gemeinsamkeiten von Volkswirtschaftslehre und Naturwissenschaften ein:

„In der Schule (…) fühlte ich mich zu den naturwissenschaftlichen Fächern hingezogen. Während mir die Politikwissenschaften unscharf, beliebig und subjektiv erschienen, waren die Naturwissenschaften analytisch, systematisch und objektiv. Während sich die politische Debatte endlos im Kreise drehte, erzielten die Naturwissenschaften Fortschritte. Meine Anfängervorlesung über ‚Principles of Economics‘ öffnete mir jedoch die Augen für eine neue Art der Betrachtung und des Denkens. Die Volkswirtschaftslehre verbindet die Stärken von Politik- und Naturwissenschaften. Sie ist im Wortsinne eine Sozialwissenschaft. Ihr Hauptgegenstand ist die Gesellschaft – wie Menschen über ihre Lebensführung entscheiden und wie sie zusammenwirken. Gleichwohl geht sie leidenschaftslos wie eine Naturwissenschaft zu Werke. Durch die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf politische Fragen sucht die Volkswirtschaftslehre bei den grundlegenden Herausforderungen voranzukommen, denen alle Gesellschaften gegenüberstehen.“

N. Gregory Mankiw, in: Mankiw, Nicholas Gregory; Taylor, Mark P. (2008): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. 4., überarb. und erw. Aufl., Stuttgart, S. VII.

Auch andere Wissenschaftler betrachten Wirtschafts- und Naturwissenschaften im Vergleich, teilen die Position von Mankiw aber nicht unbedingt. So schreibt der deutsche Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Hermann Adam in seinem Lehrbuch „Bausteine der Wirtschaft“:

„In der Wirtschaftspolitik geht es nicht um richtig oder falsch, sondern darum, welche Interessen sich in Politik und Wirtschaft durchsetzen und wie man diese Interessen am besten unter dem Etikett ‚im Allgemeinwohl liegend‘ kaschiert (= verbirgt). Der Leser bedenke immer: Wirtschaftswissenschaft ist keine Naturwissenschaft. Die naturwissenschaftlichen Gesetze sind in jedem Land gleich. […] In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften werden die Aussagen dagegen stets von der gesellschaftspolitischen Grundposition geprägt.“

Hermann Adam, in: Adam, Hermann (2015): Bausteine der Wirtschaft: Eine Einführung. 16., überarb., erw. und aktualisierte Aufl., Wiesbaden, S. 269.

In den Zitate oben wurde mehrfach ein Bezug zur Politik hergestellt: Wie verhalten sich Wirtschaftswissenschaft und Politik zueinander? Der  Wirtschaftswissenschaftler Ha Joon Chang geht in einem Zeitungsartikel von einer recht engen Beziehung aus:

© Anatole Serexhe

„Die Volkswirtschaftslehre ist eine politische Debatte. Sie ist keine Wissenschaft, und kann niemals eine sein. Es gibt keine objektiven Wahrheiten in der Volkswirtschaftslehre, die unabhängig von politischen – und häufig moralischen – Urteilen begründet werden können. Daher muss man, wenn man mit einem volkswirtschaftlichen Argument konfrontiert ist, immer die alte Frage ‚Cui bono?‘ (‚Wer hat den Nutzen?‘) stellen […].”

Der berühmte Wirtschaftswissenschaftler Paul A. Samuelson (1915 bis 2009), Autor des weitverbreiteten Lehrbuchs „Volkswirtschaftslehre“, ging vor etlichen Jahren ebenfalls auf die Beziehung von Wirtschaftstheorie und Politik ein. Er kam jedoch zu einem anderen Ergebnis als Chang:

„Es gibt weder eine Wirtschaftstheorie für Republikaner noch eine für Demokraten, noch eine für Arbeitnehmer oder für Arbeitgeber. Hinsichtlich der grundlegenden Preis- und Beschäftigungszusammenhänge bestehen denn auch unter den Nationalökonomen heutzutage keine nennenswerten Meinungsverschiedenheiten mehr.“

Paul A. Samuelson, in: Samuelson, Paul A. (1955): Volkswirtschaftslehre, 2. Auflage, Köln, S. 6.

Noch kürzer fasste sich da angeblich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) Ende der 1990er Jahre:

„Es gibt keine linke oder rechte, sondern nur gute oder schlechte Wirtschaftspolitik.“

Gerhard Schröder, deutscher Bundeskanzler von 1998 bis 2005.

Auch Journalisten haben sich mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Wirtschaftswissenschaft und Politik befasst. Im Wall Street Journal war vor einiger Zeit zu lesen:

„Ökonomen sind Ideologen, die sich als Wissenschaftler verkleidet haben. Das Erstaunliche ist nicht, dass sie auf den Gedanken gekommen sind, sich als Wissenschaftler auszugeben. Das Erstaunliche ist, dass es von der breiten Öffentlichkeit geglaubt wird. […] Der moralische Bankrott der Ökonomen besteht darin, dass sie die moralischen Werturteile leugnen, die der jeweiligen ökonomischen Schule zugrunde liegen. Die Modelle der Ökonomen sind nur politische Theorien, die sie aber als objektive Wahrheiten ausgeben.“

„Five Reasons Why Economics Is Political“: Vortrag des Wirtschaftsforschers Ha-Joon Chang

Video „Five Reasons Why Economics Is Political | Economics for People with Ha-Joon Chang“ von © New Economic Thinking.

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