Der „Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ ist eines der wichtigsten wissenschaftlichen Gremien für wirtschaftspolitische Fragen in Deutschland. Er gibt jedes Jahr ein Gutachten heraus, in dem er sich wissenschaftlich mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beschäftigt. Manchmal werden auch Sondergutachten veröffentlicht. Immer wieder entzünden sich an diesen Gutachten Kontroversen – innerhalb und außerhalb des Rates. Besonders im Jahr 2014 gab es viel Streit. In diesem Lernabschnitt schauen wir uns Kritik, Verteidigung und eine Vermittlungsposition an.

Was ist der Sachverständigenrat, welche Aufgaben hat er und wie wird er besetzt?

„Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (abgekürzt SVR), umgangssprachlich die ,fünf Wirtschaftsweisen‘ genannt, ist ein Gremium, das im Jahr 1963 durch einen gesetzlichen Auftrag eingeführt wurde. Es befasst sich wissenschaftlich mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands. Ziel ist die periodische Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zur Erleichterung der Urteilsbildung aller wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit.

Zu diesem Zweck wird jährlich ein Gutachten erstellt, das der Bundesregierung bis zum 15. November zugeleitet wird. Spätestens acht Wochen nach Vorlage des Gutachtens nimmt die Bundesregierung im Rahmen des Jahreswirtschaftsberichts dazu Stellung. Darüber hinaus kann der Sachverständigenrat von der jeweiligen Bundesregierung mit der Erstellung von Sondergutachten beauftragt werden oder selbst ein Sondergutachten erstatten, wenn auf einzelnen Gebieten eine Gefährdung der gesamtwirtschaftlichen Ziele erkennbar ist. […]

Die Aufgaben des Sachverständigenrates und die Berufung der Mitglieder sind in einem eigenen Gesetz […] geregelt. Der gesetzliche Auftrag des Sachverständigenrats besteht darin, die gesamtwirtschaftliche Lage und ihre absehbare Entwicklung im Sinne einer Prognose darzustellen. Dabei soll nach Möglichkeiten gesucht werden, das Preisniveau stabil zu halten, Arbeitslosigkeit zu vermeiden und ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht zu halten oder herzustellen. Dies solle alles im Rahmen der freien Marktwirtschaft und bei stetigem und angemessenem Wachstum geschehen. Die Verteilung von Einkommen und Vermögen soll ebenfalls berücksichtigt werden. Die wirtschaftliche Lage wird auch auf mögliche aktuelle Spannungen zwischen Nachfrage und Angebot untersucht. Dabei sollen eventuelle Fehlentwicklungen erörtert werden.

Der Rat verfolgt die als Magisches Viereck bezeichneten vier wirtschaftspolitischen Ziele: Stabilität des Preisniveaus (Geldwertstabilität), hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum. Er darf in seinem Gutachten keinen Lösungsweg empfehlen. […]

Der Rat hat fünf Mitglieder, die vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung jeweils für die Dauer von fünf Jahren berufen werden. Die Mitglieder des Sachverständigenrates dürfen weder der Regierung oder einer gesetzgebenden Körperschaft des Bundes oder eines Landes noch dem öffentlichen Dienst oder einer sonstigen juristischen Person des öffentlichen Rechts angehören; ausgenommen sind Hochschullehrer und Wissenschaftler. Wiederberufungen sind möglich. Jeweils zum 1. März, dem Ende des Ratsjahres, endet die Berufungszeit eines Mitglieds durch die sogenannten rollierenden Wahlperioden der Räte.

Traditionsgemäß wird jeweils ein Mitglied auf Vorschlag des Gemeinschaftsausschusses der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft („Arbeitgeberticket“) und der Gewerkschaften („Gewerkschaftsticket“) berufen. Mitglied auf dem Arbeitgeberticket ist Martin Werding, während Achim Truger auf Vorschlag der Gewerkschaften im Rat sitzt. […]

Mitglieder des Rates sind derzeit:

  • Achim Truger (seit März 2019)
  • Veronika Grimm (seit April 2020)
  • Monika Schnitzer (seit April 2020, seit Oktober 2022 Vorsitzende)
  • Ulrike Malmendier (seit September 2022)
  • Martin Werding (seit September 2022)“

Auszug aus: Seite „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 11. Januar 2024, 08:18 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Sachverst%C3%A4ndigenrat_zur_Begutachtung_der_gesamtwirtschaftlichen_Entwicklung&oldid=241055402 (Abgerufen: 22. Januar 2024, 12:32 UTC), CC BY-SA 4.0.

Kritik am Sachverständigenrat, #1: „Wie die Wirtschaftsweisen tricksen und täuschen“

Der Wirtschaftsjournalist Norbert Häring hat sich vor einigen Jahren sehr mit dem damaligen Gutachten der Sachverständigen auseinandergesetzt. Er kritisiert insbesondere manipulative Techniken im damaligen Jahresgutachten.

„Wissenschaft geht anders. Zwar ist weder im offiziellen Namen Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung noch im Spitznamen Wirtschaftsweise das Wort Wissenschaft enthalten. Aber gedacht ist laut Gesetzt schon daran, hervorragende Wissenschaftler in diesem Gremium zu haben, und nicht Sachverständige im Tricksen, Tarnen und Täuschen. Wie gut die fünf Weisen sich hierauf verstehen, will ich anhand ihres heute vorgestellten Jahresgutachtens 2014/15 […] zeigen. […]

Es wird sich herausstellen, dass das Wort Wirtschaft in Wirtschaftsweise so zu verstehen ist wie die Nachrichtenagenturen Wirtschaft in ihren Berichten über das Gutachten 2014/15 verwenden: als Synonym für die Seite der Arbeitgeber und sonstige Kapitaleinkommensbezieher. So wie in ‚Von der Wirtschaft ernteten die Ökonomen breite Zustimmung. Der Bankenverband sprach von einem ‚Weckruf‘ an die Politik. Der DIHK und die Arbeitgeber betonten, das Wachstum zu stärken müsse Vorrang haben vor Umverteilung.‘

Dagegen hat der SPD Finanzexperte (nicht etwa Wirtschaftsexperte, er spricht ja nicht für die Arbeitgeberseite) Joachim Poß gepoltert, das Gutachten zeige erneut‚ dass die Mehrheit der Sachverständigen nicht willens ist, sich von ihrer marktradikalen Ideologie zu lösen‘.

Die Techniken, mit denen die Sachverständigen etwa ihre Rechtfertigungen der starken Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen und das gleichzeitige Leugnen derselben hinter dem Anschein wissenschaftlicher Neutralität verstecken, sind vielfältig. Die Länge des Elaborats ist ein wichtiges Strategieelement– 400 Seiten plus Anhänge. Da kam man hinten – zum Beispiel in Sachen Einkommens- und Vermögensverteilung – relativ nüchtern und fast objektiv die Zahlen referieren. Das liest keiner, aber man kann immer darauf verweisen, dass man irgendwo alles geschrieben hat. Dann kann man getrennt davon, im Mittelteil, ohne konkrete Zahlen zu nennen eine selektive Auswahl qualitativer Aussagen treffen, die den Eindruck vermitteln, als würden die Daten die gewählte These stützen. In diesem Fall ist das die These dass das mit der Ungleichheit gar nicht so wild ist, sie im Wesentlichen durch irgendwelche statistischen Sondereffekte erklärt wird, und dass der nicht näher quantifizierte aber als sehr klein intonierte Rest unvermeidlich oder gar erwünscht ist, und außerdem im internationalen Vergleich nicht ungewöhnlich.

In der Kurzfassung vorne für den eiligen Leser – also alle und insbesondere die gesamte Presse – kann man das dann noch weiter verkürzen und zuspitzen. Da liefert dann die zunehmende Ungleichverteilung keinerlei Rechtfertigung mehr für wirtschaftspolitische Gegenmaßnahmen wie den Mindestlohn, sie beruht nur noch (‚nicht zuletzt‘) darauf, dass zuvor arbeitslose Geringqualifizierte, Frauen und Alte jetzt zu niedrigen Löhnen arbeiten – und im internationalen Vergleich ist ohnehin alles ‚unauffällig‘. […]

Auch in Verbalakrobatik sind die fünf Weisen äußerst versiert, wobei Orwell’sches Neusprech reichlich eingesetzt wird, also das Aufladen von Wörtern mit anderen Bedeutungen und das dabei nicht explizit Aussprechen des Gemeinten. So heißt es etwa zur Abwehr des Ansinnens eines staatlichen Investitionsprogramms in der Zusammenfassung: ‚Für eine pathologische Schwäche bei den privaten Investitionen (‚Investitionslücke‘), die es wirtschaftspolitisch zu kurieren gilt, gibt es derzeit keine Anhaltspunkte.[‘] Die Schwäche wird also verneint, aber nur mit der Ergänzung von‚ pathologisch‘ und ‚derzeit‘ und ‚die es wirtschaftspolitisch zu bekämpfen gilt‘. Obwohl hier nichts da ist, was wirtschaftspolitisch zu bekämpfen wäre, folgt sofort die Empfehlung wirtschaftspolitischer Maßnahmen zur Förderung der Investitionen, sogar ‚Therapie‘ genannt, in Form von Deregulierung des Arbeitsmarktes, ‚effiziente Finanzierung sozialer Sicherungssysteme‘ (Neusprech für Kürzungen) und eine geänderte Energiepolitik. Wer darin einen Widerspruch zu erblicken glaubt, ist mit Neusprech nicht vertraut. Denn im Ausdruck ‚die es wirtschaftspolitisch zu bekämpfen gilt‘ ist ‚wirtschaftspolitisch‘ Neusprech für ‚Investitionsprogramm‘. Das will man so nicht aussprechen, denn das würde ja jedem deutlich machen, dass man hier in einer politischen Diskussion Position bezieht und nicht der objektiven ökonomischen Vernunft bescheiden seine Stimme leiht. Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die danach empfohlen werden, werden wiederum nicht so genannt, denn Wirtschaftspolitik klingt nach Eingriff des Staates in den Markt. Da klingt doch ‚Therapie‘ (einer nicht vorhandenen Pathologie) und ‚Verbesserung der Rahmenbedingungen‘ erheblich besser.

Eine weitere Technik der Verbalakrobatik besteht darin, eine störende Kritik in trockener, neutraler Sprache neu zu formulieren, und so zu tun, als habe man damit eine harmlose Erklärung für das Kritisierte jenseits von Gut und Böse gefunden. […]

Dem Versteckspiel dient es auch vortrefflich, aus der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur sehr selektiv auszuwählen und so zu zitieren, dass nicht auffällt, wenn man windige Studienergebnisse der Arbeitgeberseite kritiklos übernimmt (Institut der Deutschen Wirtschaft), um darzulegen, dass die Lohnbezieher ruhig noch ein bisschen ‚Lohnspreizung‘ (Neusprech) vertragen können, ohne sich über zu viel Ungleichheit beschweren zu dürfen, oder wenn man seine Erkenntnisse aus Publikationen zieht, mit Titeln wie: ‚Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet.‘

In besonders heiklen Fällen, wie beim Mindestlohn, wo man aus wiederholter, schmerzhafter Erfahrung weiß, dass mindestens ein Journalist sehr genau darauf achtet, ob die Literaturlage diesmal wenigstens korrekt dargestellt wird, verzichtet man lieber gleich ganz darauf, sich zur wissenschaftlichen Basis der eigenen Aussagen zu äußern und behauptet einfach wild drauf los, garniert nur mit einzelnen stützenden Aufsätzen, die unauffällig in das Literaturverzeichnis eingestreut werden.“

Auszug aus: Norbert Häring: Wie die Wirtschaftsweisen tricksen und täuschen (Teile 1 bis 4), 12.11.2014. Der Textausschnitt hier steht dank freundlicher Unterstützung des Autors unter der Lizenz CC BY-ND 4.0. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts.

Kritik am Sachverständigenrat, #2: Die „Wirtschaftsweisen aus dem Morgenland“

Vor einigen Jahren hat sich die ZDF-Satiresendung „Die Anstalt“ ebenfalls kritisch mit den damaligen „Wirtschaftsweisen“ auseinandergesetzt. Leider ist der Beitrag in der ZDF-Mediathek nicht mehr verfügbar, aber kann möglicherweise noch auf anderen Videoportalen angesehen werden.

Verteidigung des Sachverständigenrats, #1: Keine Ideologie, sondern wissenschaftlich fundiert

Im Jahr 2014 äußerte die damalige SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi starke Kritik am Gutachten des Sachverständigenrates. Dieser Vorwurf wurde im folgenden Text von Christoph M. Schmidt (damaliger Vorsitzender des Sachverständigenrates) und Benjamin Weigert (Generalsekretär des Sachverständigenrates) zurückgewiesen.

„Der Vorwurf, dass der Rat seine Aussagen nicht auf wissenschaftlicher Basis träfe, sondern rein ideologisch argumentiere, ist […] besonders schwerwiegend. Um dieser Kritik entschieden entgegenzutreten, löst dieser Beitrag einige Missverständnisse über den gesetzlichen Auftrag auf und erläutert die Arbeitsweise des Rates.

Der Rat ist gesetzlich verpflichtet, jedes Jahr ein Jahresgutachten vorzulegen, um die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu begutachten […]. Der Rat ist ausschließlich an diesen gesetzlichen ‚Auftrag gebunden und in seiner Tätigkeit unabhängig‘ und besteht aus Personen, die über ‚besondere wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse und volkswirtschaftliche Erfahrungen verfügen‘.

Dabei ist der Kreis potenzieller Ratsmitglieder durch das Gesetz von vornherein stark begrenzt […]. So dürfen sie weder aktuell (noch während des Jahres vor der Berufung) beispielsweise der Regierung oder dem Öffentlichen Dienst angehören – davon ausgenommen sind nur Hochschullehrer oder Mitarbeiter von wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituten. Sie dürfen auch keine Repräsentanten von Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerorganisationen sein oder mit diesen in einem Dienst- oder Geschäftsbesorgungsverhältnis stehen. Allerdings gibt es die informelle Übereinkunft, dass ein Ratsmitglied im Einvernehmen mit den Gewerkschaften und eines mit den Arbeitgebern vorgeschlagen wird.

Die jeweils für einen Fünfjahreszeitraum ernannten Ratsmitglieder können zudem nicht abberufen werden. Die so garantierte Unabhängigkeit des Gremiums ist von entscheidender Bedeutung, da sie verhindert, dass von den politischen Entscheidungsträgern oder anderen Interessengruppen ein direkter Einfluss auf den Rat ausgeübt wird.

Im SVR-Gesetz ist außerdem eindeutig geregelt, was der Rat genau zu untersuchen hat und dass er die Annahmen seiner Untersuchung transparent machen muss. Der anzulegende Maßstab für die Beurteilung der künftigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist ebenfalls im SVR-Gesetz festgelegt. Es ist das sogenannte magische Viereck (§ 2 SVR-Gesetz). Wie die vier vorgegebenen Ziele – Preisniveaustabilität, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum – vom Rat im jeweiligen Einzelfall gewichtet werden, ist jedoch nicht explizit geregelt und muss von jedem Ratsmitglied selbst entschieden werden. Insbesondere ist es die Aufgabe des Rates, auf Fehlentwicklungen hinzuweisen, welche die genannten Ziele gefährden, und Möglichkeiten zu deren Vermeidung aufzuzeigen.

Sollte ein Ratsmitglied eine andere Auffassung als die Ratsmehrheit vertreten, die sich etwa aus einer anderen Gewichtung der genannten Ziele ergibt, räumt ihm das Gesetz explizit das Recht ein, einer abweichenden Auffassung in einem Minderheitsvotum Ausdruck zu verleihen. Damit wird bereits im Gesetz anerkannt, dass es trotz des vorgegebenen Zielkanons und der wissenschaftlichen Basis keinen ‚objektiven‘ oder ‚neutralen‘ Bewertungsmaßstab für die Begutachtung wirtschaftspolitischer Maßnahmen geben kann. […]

Dies wird etwa bei der Beurteilung des einheitlichen Mindestlohns in den jüngsten Jahresgutachten [2014/15] deutlich. Darin wird die internationale Literatur zu den Wirkungen eines Mindestlohns diskutiert […]. Im Ergebnis erkennt die Mehrheit erhebliche Risiken für die Beschäftigung von besonders betroffenen Risikogruppen, etwa gering qualifizierten Personen, wodurch sie innerhalb des magischen Vierecks vor allem den Beschäftigungsstand gefährdet sieht. Peter Bofinger befürchtet diese Risiken offenbar nicht, kommt daher bei seiner Beurteilung des Mindestlohns zu einem anderen Ergebnis und formuliert dies in entsprechenden Minderheitsvoten.

Zur Erstellung des Jahresgutachtens stützt sich der Rat auf die aktuelle wirtschaftswissenschaftliche Literatur. […] Natürlich wird die Argumentation entlang der Literatur geführt, transparent dokumentiert durch entsprechende Belege. Auf dieser Basis zieht der Rat auftragsgemäß Schlussfolgerungen, um zur Urteilsbildung in Politik und Öffentlichkeit beizutragen. […]

Mit der Publikation von Minderheitsmeinungen im Jahresgutachten wird deutlich transparenter, als es in vielen Gutachten anderer Institutionen oder auch den meisten Forschungsarbeiten der Fall ist, an welchen Stellen eine signifikant unterschiedliche Auffassung oder Interpretation der wissenschaftlichen Literatur und der empirischen Evidenz besteht. Das gesetzlich verankerte Recht eines jeden Ratsmitglieds, seine abweichenden Meinungen im Jahresgutachten zu artikulieren, ist daher elementarer Bestandteil der Arbeitsweise des Rates. Es bietet nicht nur ein Höchstmaß an Transparenz, sondern ermöglicht es den Ratsmitgliedern auch, alternative Sichtweisen zu formulieren und diese der Öffentlichkeit sowie den wirtschaftspolitisch Handelnden bekannt zu machen.[…]

Wie sind nun, vor dem Hintergrund des gesetzlichen Auftrags und der Arbeitsweise des Rates, die Vorwürfe der Generalsekretärin der SPD zu bewerten, die mit ihrer Kritik letztlich exemplarisch für andere Wortführer steht? Angesichts des Zielvierecks, das dem Rat als Bewertungsmaßstab dient, endet fast jede Analyse wirtschaftspolitischer Maßnahmen zwangsläufig mit einem Werturteil, weil ja gerade die vier Ziele gewichtet werden müssen. Sowohl die Analyse als auch die Zielgewichtung wird dabei für die Öffentlichkeit transparent gemacht – im besonderen Maße, wenn es im Rat abweichende Meinungen gibt.

Insofern läuft der Vorwurf ins Leere, die Kritik des Rates an der Wirtschaftspolitik sei nur ideologisch begründet, aber nicht wissenschaftlich fundiert. Die Fülle an Daten und Literatur, die für den breiteren Leserkreis aufbereitet wurde, legt außerdem nicht den Schluss nahe, es wären zu wenige Fakten zusammengetragen worden. Die wissenschaftlichen Leistungen der Ratsmitglieder […] entkräften zudem den Vorwurf, die Methodik des Rates sei nicht mehr auf der Höhe der Zeit.“

Verteidigung des Sachverständigenrats, #2: Unabhängigkeit als besondere Stärke des Sachverständigenrates

Lars Feld, selbst einmal Mitglied im Sachverständigenrat, erläutert gegenüber der von Arbeitgeberverbänden getragene Denkfabrik „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ die besondere Stärke des Sachverständigenrates.

Video „Ist der Sachverständigenrat das richtige Modell für die Politikberatung? Prof. Dr. Lars P. Feld“ von © INSM ist nicht unter einer CC-Lizenz veröffentlicht und wird von youtube.com eingebettet.

Das Minderheitsvotum als Lösung der Kontroverse?

Der folgende Text betont die Wichtigkeit der Minderheitsvoten als mögliche Lösung des Streits um den Sachverständigenrat.

„‚Nützliche Ideologen‘, so titelt Die Zeit kürzlich einen Beitrag über Ökonomen in ihrer Funktion als Politikberater in Deutschland. Sie hebt dabei insbesondere auf den Sachverständigenrat für Wirtschaft ab. Zwei seiner Mitglieder, Lars P. Feld und Peter Bofinger, geben auch zumindest implizit zu, dass Ideologie bei ihren Stellungnahmen eine Rolle spielt. Lars P. Feld stellt fest: ‚Wer behauptet, über Wirtschaftspolitik wertfrei urteilen zu können, liegt falsch.‘ Peter Bofinger bemerkt: ‚Ideologisch sind natürlich immer die anderen.‘

Die Mitglieder des Sachverständigenrats sind somit offensichtlich – und auch nach eigenem Eingeständnis – ideologisch vorbelastet. Diese Vorbelastungen sind freilich bekannt, wenn die Mitglieder berufen werden, und sie sind zum Teil gerade Voraussetzung für die Berufung. Auch wenn es nicht im Gesetz steht, haben sowohl die Arbeitgeber als auch die Gewerkschaften ein Mitbestimmungsrecht bei der Besetzung jeweils eines der fünf Posten, und sie werden in aller Regel eine Person nur dann akzeptieren, wenn sie zumindest einigermaßen auf ihrer politischen Linie ist. Tatsächlich sind es auch die Vertreter dieser beiden Positionen, insbesondere aber die ‚Gewerkschaftsvertreter‘, die die meisten Sondervoten abgeben. Aber auch bei den anderen Mitgliedern dürften die wirtschaftspolitischen (ideologischen) Positionen bekannt sein. Dies gilt ganz besonders für die Mitglieder des Kronberger Kreises, der strikt neoliberale Positionen vertritt. Die Frage ist dann nur, ob die entsprechenden Personen wegen oder trotz ihrer politischen Positionen berufen werden. Dass diese keine Rolle spielen und einzig die wissenschaftliche Qualifikation zählt, ist kaum anzunehmen.

Bei alldem kann man sich fragen, ob die Mitglieder des Sachverständigenrats wirklich ‚unabhängig‘ sind. Dabei kommt es darauf an, was man unter ‚Unabhängigkeit‘ versteht. Sie sind formal unabhängig im Sinne von § 1 (3) des SVR-Gesetzes, sieht man einmal davon ab, dass bei den Vertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaften die jeweiligen Interessengruppen nicht nur bei ihrer Bestellung mitreden, sondern auch eine Wiederbestellung nach Ablauf der ersten Amtszeit verhindern können, was aber wohl erst einmal geschehen ist. Das heißt aber nicht, dass sie völlig unvoreingenommen an ihre Fragestellungen herangehen, schließlich kann wohl niemand bei einer solchen Arbeit seine politischen Einstellungen völlig verleugnen. Dies bezieht sich nicht nur auf Werturteile im engeren Sinne, sondern auch auf die Interpretation empirischer Ergebnisse. Wenn z. B. Peter Bofinger die konjunkturellen Auswirkungen eines Mindestlohns anders einschätzt als die Ratsmehrheit, beruht das darauf, dass er die vorliegende empirische Information zum Mindestlohn anders beurteilt. Dabei spielt wohl auf beiden Seiten die selektive Wahrnehmung eine wesentliche Rolle: Wir sind alle immer geneigt, jene Informationen eher zur Kenntnis zu nehmen und stärker zu gewichten, die mit unseren bisherigen Vorstellungen vereinbar sind. Da dies unvermeidbar ist, kann man Annäherungen an objektive Ergebnisse (fast) immer nur dadurch erreichen, dass man die unterschiedlichen Auffassungen in offener Diskussion miteinander konfrontiert. Hier hat das von den Gewerkschaften nominierte Mitglied eine wichtige Funktion; ohne dieses würde zumindest gelegentlich eine Eindeutigkeit behauptet, die nicht existiert. Kann sich das Gremium nicht einigen, machen Minderheitsvoten Sinn; sie machen nach außen das Spektrum der wissenschaftlichen Auffassungen deutlich. Wenn allerdings regelmäßig eine 4:1-Mehrheit besteht, dürfte das abweichende und überstimmte Mitglied freilich kaum in der Lage sein, in allen Fällen, in denen es eine andere Auffassung vertritt, diese in einem Minderheitsvotum auch zum Ausdruck zu bringen.[…]“

Ausschnitt aus: Gebhard Kirchgässner, Nützliche Ideologen?, in: Wirtschaftsdienst 3/2015, S. 168-171CC BY 4.0. Weitere Quellen- und Lizenzangaben am Ende des Lernabschnitts.

Der Text „Was ist der Sachverständigenrat, welche Aufgaben hat er und wie wird er besetzt?“ ist ein Ausschnitt aus „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ von Wikipedia-Autoren, siehe Versionsgeschichte, lizenziert unter CC BY-SA 4.0.

Der Text „Kritik am Sachverständigenrat, #1: ,Wie die Wirtschaftsweisen tricksen und täuschen’“ ist ein Auszug aus: „Wie die Wirtschaftsweisen tricksen und täuschen (Teile 1 bis 4)“, 12.11.2014 von Norbert Häring, hier freundlich zur Verfügung gestellt unter der Lizenz CC BY-ND 4.0.

Der Text „Verteidigung des Sachverständigenrats, #1: Keine Ideologie, sondern wissenschaftlich fundiert“ ist ein Auszug aus: „Der Sachverständigenrat. Gesetzlicher Auftrag und Arbeitsweise“, in: Wirtschaftsdienst 3/2015, S. 159-163 von Christoph M. Schmidt und Benjamin Weigert, lizenziert unter CC BY 4.0.

Das Video „Ist der Sachverständigenrat das richtige Modell für die Politikberatung? Prof. Dr. Lars P. Feld“ von © INSM ist nicht unter einer CC-Lizenz veröffentlicht und wird von youtube.com eingebettet.

Der Text „Das Minderheitsvotum als Lösung der Kontroverse?“ ist ein Auszug aus: „Nützliche Ideologen?“, in: Wirtschaftsdienst 3/2015, S. 168-171 von Christoph M. Schmidt und Benjamin Weigert, lizenziert unter CC BY 4.0.