Wie in anderen Wissenschaften fallen auch die Ideen und Überlegungen der Wirtschaftsforscherinnen nicht vom Himmel, sondern haben eine eigene Geschichte. Dabei hängen die wirtschaftliche Entwicklung und das wissenschaftliche Nachdenken darüber eng miteinander zusammen. Gerade
Wirtschaftskrisen spielen hier eine große Rolle.

#In the long run…

„Die Neoklassik war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die dominierende Denkschule in der Volkswirtschaftslehre. Eine traditionelle Schlussfolgerung der Neoklassik ist, dass Arbeits-, Güter- und Finanzmärkte zur Selbstregulierung neigen und ohne verzerrende staatliche Eingriffe zu einer Gleichgewichtssituation tendieren. Dieses Gleichgewicht ist dadurch gekennzeichnet, dass keine übermäßige Arbeitslosigkeit vorliegt und die wirtschaftlichen Pläne von privaten Haushalten und Unternehmen über den Marktmechanismus (Angebot und Nachfrage) zum gegenseitigen Vorteil koordiniert werden.

In den späten 1920er und 1930er Jahren wurde das volkswirtschaftliche Denken allerdings durch die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise, die auch als ‚Große Depression‘ bezeichnet wird, erschüttert: Die Selbstregulierung der Märkte schien nicht so zu funktionieren, wie von vielen Ökonomen vorhergesagt, und die hieran ausgerichtete Politik die Lage nur zu verschlimmern.

Die keynesianische Revolution der 1930er Jahre

Mitten in der Krise veröffentlichte der britische Ökonom John Maynard Keynes 1936 seine ‚Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes‘, eines der einflussreichsten volkswirtschaftlichen Werke des 20. Jahrhunderts. Keynes meinte, den starken Rückgang der Produktion und den damit verbundenen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit zu Beginn der 1930er Jahre durch einen allgemeinen Mangel an Güternachfrage erklären zu können, welcher in der neoklassischen Theorie zumindest in ihrer damaligen Auslegung kaum möglich erschien. Er empfahl daher eine aktive Steuerung der Nachfrage durch die Zinspolitik der Zentralbank, eine aktive Wirtschaftspolitik mit hohen Staatsausgaben und eine Reduzierung der Einkommensungleichheit zur Stärkung der Massenkaufkraft. In den Wirtschaftswissenschaften spricht man in diesem Zusammenhang von der ‚keynesianischen Revolution‘.

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, der manchmal als ‚goldenes Zeitalter des Kapitalismus‘ bezeichneten Epoche, war der Keynesianismus die dominante Denkschule in der Wirtschaftspolitik. Der Wohlfahrtsstaat wurde in den reichen Ländern auf Basis von hohen Steuern und Sozialversicherungsabgaben ausgebaut; die Finanzmärkte waren stark reguliert und internationale Kapitalströme wurden begrenzt; die Arbeitslosigkeit war gering, die Gewerkschaften befanden sich in einer starken Verhandlungsposition, und es wurden weitgehende verteilungspolitische Maßnahmen ergriffen, die die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen gering halten sollten. Große Teile der Wirtschaft waren durch staatliche Unternehmen bzw. staatliche Regulierung geprägt.

Arbeits-/Erwerbslosenquoten in Deutschland, Frankreich, USA und Großbritannien, 1924 bis 2020

Hinweis: Bei Datenreihen, die über einen so langen Zeitraum wie hier präsentiert werden, sollte man bedenken, dass die Vergleichbarkeit zwischen den Ländern und zwischen verschiedenen Zeitpunkten eingeschränkt sein kann, da sich die statistischen Grundlagen zur Ermittlung gelegentlich ändern.

Die ‚neoklassische Gegenrevolution‘ der 1970er Jahre

In den 1970er Jahren geriet die keynesianisch inspirierte Ausrichtung der Wirtschaftspolitik in die Krise. Es kam zu einem Anstieg der Inflation bei gleichzeitigem Anstieg der Arbeitslosigkeit (‚Stagflation‘). Es entwickelten sich zunehmend harte Verteilungskämpfe zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberinnen, die sich gegenseitig mit immer höheren Lohnforderungen und Preissteigerungen überboten. In einigen Ländern lähmten vermehrte Streiks die wirtschaftliche Dynamik. Die traditionellen keynesianischen Rezepte der Geld- und Fiskalpolitik erschienen ungeeignet, die Stagflation zu überwinden.

Inflationsrate der Konsumpreise in Deutschland, Frankreich, USA und Großbritannien, 1928 bis 2020

Inflationsrate der Konsumpreise in Deutschland, Frankreich, USA und Großbritannien, 1928 bis 2020 von Julian Becker, CC BY 4.0 International. Quelle der Daten: Eigene Berechnung auf Basis von: Òscar Jordà, Moritz Schularick, and Alan M. Taylor. 2017. Macrofinancial History and the New Business Cycle Facts. in NBER Macroeconomics Annual 2016, volume 31, edited by Martin Eichenbaum and Jonathan A. Parker. Chicago: University of Chicago Press. Diese Datenbank steht unter der Lizenz CC-BY-NC-SA 4.0.

Vor diesem Hintergrund setzte in den 1970er Jahren in Wissenschaft und Politik eine ‚neoklassischen Gegenrevolution‘ ein. Eine wichtige Rolle spielten hier die Arbeiten des Ökonomie-Nobelpreisträgers Milton Friedman, durch dessen Ideen u. a. die Regierungen von Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA inspiriert wurden. In den meisten Ländern wurden nun angebotsseitige Reformen durchgesetzt. Ziel war es, Ineffizienzen im Staatsapparat zu beseitigen und verstärkte Leistungsanreize für Arbeitnehmerinnen sowie private Unternehmen zu schaffen, um die Angebotsbedingungen der Volkswirtschaft zu verbessern. Zu diesem Zweck wurden Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen gesenkt. Außerdem wurde in vielen Ländern durch die Deregulierung des Arbeitsmarkts (z. B. Abbau des Kündigungsschutzes, Kürzung der Arbeitslosenunterstützung) die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften geschwächt. Gleichzeitig wurden die nationalen Zentralbanken zunehmend unabhängig von der Politik, und der staatlichen Ausgabenpolitik wurden Grenzen gesetzt. Hierdurch sollte verhindert werden, dass durch staatlich betriebene Nachfragesteigerung lediglich kurzfristige ‚konjunkturelle Strohfeuer‘ erzeugt werden und die eigentlich notwendigen strukturellen Reformen verschleppt werden.

Im Zuge der in den 1980er Jahren einsetzenden und sich mit der Auflösung des kommunistischen Ostblocks zu Beginn der 1990er Jahre beschleunigenden Globalisierung wurden zunehmend auch internationale Handelsbeschränkungen abgebaut. Die internationalen Finanzmärkte wurden dereguliert. Hierdurch sollte der internationale Wettbewerb gestärkt werden und Ineffizienzen beseitigt werden, die auf die Abschottung der nationalen Ökonomien vor internationaler Konkurrenz zurückgeführt wurden.

Der Wirtschaftsforscher Milton Friedman (l.) und der amerikanische Präsident Ronald Reagan (r.) waren zwei zentrale Figuren der neoklassischen Gegenrevolution und der Angebotspolitik. „Series: Reagan White House Photographs, 1/20/1981 – 1/20/1989Collection: White House Photographic Collection, 1/20/1981 – 1/20/1989“, gemeinfrei, via Wikimedia Commons.

Das ‚Ende der Geschichte‘ und die Rückkehr der Denkschulen

Während der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im Zusammenhang mit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West sogar vom ‚Ende der Geschichte‘ sprach, schienen auch in der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie in den 1990er und 2000er Jahren die Grenzen zwischen neoklassischen und keynesianischen Ansätzen nach und nach zu verschwinden. Einige Ökonominnen sprachen daher auch vom ‚Neuen Konsens der Makroökonomik‘.

Danach wurde das kurzfristige Auf und Ab der Konjunktur mit Nachfrageschwankungen erklärt und sollte entsprechend mit keynesianischen Instrumenten begrenzt werden (Konjunkturpolitik). Als entscheidend für die längerfristige Entwicklung der Wirtschaftsleistung galten aber angebotsseitige Bedingungen (Strukturreformen). Für die kurzfristige Konjunktursteuerung galt die Geldpolitik der Zentralbank als bevorzugtes Instrument, während die staatliche Ausgabenpolitik kritisch gesehen wurde. Gründe hierfür waren, dass staatliche Ausgabenprogramme als tendenziell ineffizient im Vergleich zu privaten Initiativen angesehen wurden und dass ein weiterer Anstieg der Staatsverschuldung befürchtet wurde.

Anteil der oberen zehn Prozent der Einkommensbezieherinnen an den Gesamteinkommen, 1919 bis 2010

Anteil der oberen zehn Prozent der Einkommensbezieherinnen an den Gesamteinkommen, 1919 bis 2010 von Julian Becker, CC BY 4.0 International. Quelle der Daten: Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert,München 2014.

Spätestens mit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 und mit der Eurokrise seit 2010 ist der theoretische Grundkonflikt zwischen Neoklassik und Keynesianismus mit voller Macht in die wirtschaftspolitische Debatte zurückgekehrt. Zunächst reagierten die meisten Regierungen in den Jahren 2008 und 2009 mit umfangreichen, keynesianisch inspirierten Ausgabenprogrammen auf die Krise. Viele Ökonominnen argumentierten, dass diese Notfallmaßnahmen nötig waren, um einen wirtschaftlichen und politischen Niedergang vom Ausmaß der Großen Depression zu vermeiden. Zunehmend wurden in den Wirtschaftswissenschaften auch Stimmen laut, welche den Anstieg der Einkommensungleichheit in vielen Ländern als eine wichtige Ursache für die Finanzkrise ansehen. Ihr Argument ist, dass die unteren und mittleren Einkommensschichten sich in vielen Ländern (v. a. USA und Großbritannien) verschulden mussten, um ihre Konsumnachfrage hoch zu halten, weil ihre Einkommen nicht mehr oder kaum noch stiegen. Viele sprechen in diesem Zusammenhang von der ‚Rückkehr des Keynesianismus‘ und fordern eine gleichmäßigere Einkommensverteilung als Antwort auf die Überschuldung vieler Privathaushalte.

Proteste gegen Sparpolitik („Austerity“) im Zuge der Eurokrise in Irland im Jahr 2012. Ausschnitt aus: „No To Austerity: Anti-Austerity Protest In Dublin (Ireland) – 24 November 2012“ von William Murphy, CC BY-SA 2.0, via flickr.com.

Mittlerweile sind viele Regierungen wieder zu einer angebotsorientierten Politik, inspiriert durch neoklassische Denkmuster, zurückgekehrt. Vielerorts wird eine entschlossene staatliche Sparpolitik (Austerität) betrieben, weil die wirtschaftlichen Probleme als im Wesentlichen strukturell bedingt interpretiert werden. In der Europäischen Union und speziell in der Eurozone wird diese Politik insbesondere von der deutschen Bundesregierung gefordert. Zugleich kritisieren einige internationale Beobachter die aus ihrer Sicht antikeynesianischen Positionen in Deutschland und diagnostizieren der Eurozone sogar ein ‚Deutschland-Problem‘ im Zusammenhang mit den aus ihrer Sicht negativen Folgen der Sparpolitik. Viele Anhänger neoklassischer Konzepte halten hingegen den Keynesianismus nach den Erfahrungen der 1970er Jahre nach wie vor für gescheitert. Somit ist gegenwärtig unklar, in welche Richtung sich das ökonomische Denken in den nächsten Jahren entwickeln wird.“

Gekürzte und überarbeitete Version von: Till van Treeck für bpd.de: Zur historischen Entwicklung von Neoklassik und Keynesianismus, CC BY-NC-SA 4.0 DE.

Der Text im Lernabschnitt „,In the long run…‘: Revolutionen in der Wirtschaftsforschung“ ist eine gekürzte und leicht überarbeitete Fassung des Textes „Zur historischen Entwicklung von Neoklassik und Keynesianismus“ von Till van Treeck für bpb.de und lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0.

Die Abbildung „Arbeits-/Erwerbslosenquoten in Deutschland, Frankreich, USA und Großbritannien, 1924 bis 2020“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: Deutschland (1920 bis 2012): Rahlf, Thomas (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2015.Daten entnommen aus: GESIS Datenarchiv, Köln. histat. Studiennummer 8603 Datenfile. Ab 2012: Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf. Großbritannien, USA, Frankreich (alle Jahre): Òscar Jordà, Moritz Schularick, and Alan M. Taylor. 2017. Macrofinancial History and the New Business Cycle Facts. in NBER Macroeconomics Annual 2016, volume 31, edited by Martin Eichenbaum and Jonathan A. Parker. Chicago: University of Chicago Press. Diese Datenbank steht unter der Lizenz CC-BY-NC-SA 4.0.

Die Abbildung „Inflationsrate der Konsumpreise in Deutschland, Frankreich, USA und Großbritannien, 1928 bis 2020“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: Eigene Berechnung auf Basis von: Òscar Jordà, Moritz Schularick, and Alan M. Taylor. 2017. Macrofinancial History and the New Business Cycle Facts. in NBER Macroeconomics Annual 2016, volume 31, edited by Martin Eichenbaum and Jonathan A. Parker. Chicago: University of Chicago Press. Diese Datenbank steht unter der Lizenz CC-BY-NC-SA 4.0.

Die Abbildung „Anteil der oberen zehn Prozent der Einkommensbezieherinnen an den Gesamteinkommen, 1919 bis 2010“ von Julian Becker ist lizenziert unter CC BY 4.0. Quelle der Daten: Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert,München 2014.