Die Kontroverse um den Sachverständigenrat zeigt, dass es umstritten ist, inwiefern wissenschaftliche Beratung bei Wirtschaftsfragen politisch unabhängig sein kann. Aber wie verhält es sich mit der Wertfreiheit? Geht die Wirtschaftswissenschaft „leidenschaftslos wie eine Naturwissenschaft zu Werke“, wie es N. Gregory Mankiw behauptet? Oder gibt es keine „objektiven Wahrheiten in der Volkswirtschaftslehre, die unabhängig von politischen – und häufig moralischen – Urteilen begründet werden können“, wie sein Kollege Chang äußert?

#Ökonomie für Expertinnen

Die besondere Stellung der Wirtschaftswissenschaften

„Die Objektivität der Sozialwissenschaften wurde von Anfang an im Vergleich zur Objektivität der Naturwissenschaften gesehen. Die historischen und philosophischen Hintergründe dafür sind vielfältig. Die modernen Wissenschaften entstanden aus Astronomie und Physik. Diese Herkunft und Personen wie Francis Bacon, René Descartes und Galileo Galilei prägten das Bild von Wissenschaft und wissenschaftlicher Methode […]. Die Sozialwissenschaften entstanden deutlich später und mussten sich daher an den bereits gefestigten Methoden und dem Anspruch messen lassen, objektives und neutrales Wissen zu erzeugen. Die Wirtschaftswissenschaften mit ihren von den Naturwissenschaften abgeleiteten Methoden sind der Ansicht, diesen Anspruch erfüllen zu können. […

[Heute] kommt den Sozialwissenschaften eine besondere Rolle bei der Steuerung und Analyse [der] Gesellschaften zu. Dabei stellen die Wirtschaftswissenschaften wohl die öffentlich einflussreichste Wissenschaft in dem Chor der Sozialwissenschaften dar. Wirtschaftswissenschaftliche Forschung und die daraus resultierenden Forschungsergebnisse sind eine wichtige Orientierung für wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidungen. Sinnbildlich dafür steht die Vielzahl von Wirtschaftsforschungsinstituten, die in der Politikberatung tätig sind. Beispielhaft genannt seien das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI). Diese Auswahl ist kein Zufall: Während das DIW als politisch eher neutral gilt, gelten das IW als wirtschaftsnah und das WSI als gewerkschaftsnah. Aus diesen Ausrichtungen ergeben sich entsprechend verschiedene wirtschaftspolitische Empfehlungen. Doch wie ist das möglich, bei doch eigentlich objektiver, eben wertfreier Wissenschaft?

Sozialwissenschaftliche Forschung wird direkt von wirtschaftlichen und politischen Problemen inspiriert, womit eine einfache Realisierung des Werturteilsfreiheitsideals schwierig zu erreichen ist. Vorannahmen und Verzerrungen können so direkt in die Forschung einließen. Diese sind zum Teil nur schwer zu identifizieren. Wenn Wissenschaftler_innen zur sozialen Ungleichheit oder Inflation forschen, haben sie ein im Vorfeld bestimmtes Verständnis davon, ob soziale Ungleichheit oder Inflation wünschenswert sind oder nicht. Dies ist eine normative Einstellung zum Forschungsgegenstand. Noch schwieriger ist es, die schädlichen Verzerrungen wissenschaftlicher Ergebnisse zu identifizieren: Wenn die Publikation bestimmter Ergebnisse in einer Fachzeitschrift verhindert wird, ist das ein klar schädlicher Einfluss. Aber wie betrachtet man Forschungsfinanzierung durch Regierungen, Stiftungen und andere Investoren?  […]

Die Wirtschaftswissenschaften sind […] der Ansicht, über rigorose wissenschaftliche Methoden zu verfügen, die sich von den Naturwissenschaften ableiten, um eben solche Einflüsse [z. B. durch Arbeitgeber oder Gewerkschaften] zu minimieren. [Hier] würde beispielsweise die Trennung in normative und positive Ökonomie greifen: Die Forschung sei zwar durch bestimmte Geldgeber oder Investoren motiviert, bleibe aber selbst wertfrei und objektiv. Dadurch ergibt sich […] eine höhere Autorität und Glaubwürdigkeit. [Dies] führt dazu, dass die Meinungen und Ansichten von Wirtschaftswissenschaftler_innen einen besonderen Stellenwert haben. Beispielhaft dafür steht der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, dessen Beurteilungen von politischen Maßnahmen als besonders wichtig erachtet werden. […]

Leidenschaftslos wie eine Naturwissenschaftlerin?

Die Idee, sozialwissenschaftliche Forschung mit naturwissenschaftlichen Methoden zu betreiben – was für sich schon auf eine hohe Objektivität und Neutralität hinweisen soll –, ist in den Wirtschaftswissenschaften weiterhin stark ausgeprägt. Im Einführungswerk ‚Grundzüge der Volkswirtschaftslehre‘ [von Mankiw und Taylor] im Kapitel ‚Volkswirtschaftliches Denken‘ finden sich folgende Aussagen:

‚Ökonomen bemühen sich, ihr Gebiet mit wissenschaftlicher Objektivität zu behandeln. Sie betreiben die Erforschung der Volkswirtschaft in ziemlich derselben Weise, wie ein Physiker die Materie und ein Biologe das Leben untersucht: Sie entwerfen Theorien, sammeln Daten und versuchen dann aufgrund der Daten, ihre Theorie zu bestätigen oder zu verwerfen.‘

Einige Zeilen später schreiben die Autoren:

‚Das Wesentliche einer Wissenschaft ist jedoch die wissenschaftliche Methode – die leidenschaftslose Entwicklung und Überprüfung von Theorien darüber, wie die Welt funktioniert. Diese Forschungsmethode ist auf die Volkswirtschaft ebenso anwendbar wie auf die Schwerkraft der Erde oder die Entwicklung der Natur.‘

Es wird der Eindruck vermittelt, wirtschaftswissenschaftliche Modelle hätten die gleiche Aussagekraft wie Modelle in der Physik. Die Autoren suchen explizit die Nähe zu den Naturwissenschaften und naturwissenschaftlichen Gesetzen. […] Die Ansicht, die Volkswirtschaftslehre sei eine Sozialwissenschaft mit naturwissenschaftlichen Methoden, wird so gelehrt und verbreitet. […]

Diese Idee geht auf den Aufsatz ‚The Methodology of Positive Economics‘ von Milton Friedman zurück. [..] Wirtschaftswissenschaftliche Theorien trennen sich [nach Friedman] in zwei Felder: normative und positive Theorie. Die Vorannahme ist, dass es eine positive ökonomische Wissenschaft gibt, die prinzipiell in der Lage ist, wertfreie Aussagen zu treffen. Grundlage für diese Unterscheidung ist die strikte Trennung von Fakten und Werturteilen. Positive Aussagen haben den Anspruch, wirtschaftliche Zusammenhänge rein deskriptiv und neutral zu beschreiben, den Ist-Zustand. Dabei sollen keine Werturteile erfolgen. Normative Theorie hingegen befasst sich mit Werten und Policy-Zielen, also mit Sollens-Aussagen […] Keine auf Werte bezogene Frage soll mit Fakten allein geklärt werden und keine Frage bezüglich der Fakten soll mit Werturteilen geklärt werden.[…]

Ein Beispiel:

  1. Die Politik soll das Ziel A erreichen und dabei die Randbedingung R befriedigen.
  2. Maßnahme X befriedigt R und erreicht A.
  3. Die Politik sollte versuchen, X zu erfüllen […].

X kann dabei eine bestimmte Politik sein, etwa wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen, oder ein Projekt wie der Bau eines Staudammes oder eines Autobahnabschnittes. Die positive Ökonomie befasst sich mit Prämisse (2), also welche Maßnahmen Ziel und Randbedingungen optimal erfüllen kann. Die Wahl von X ist nach diesem Verständnis ein Fall für die positive Ökonomie, da diese die verschiedenen Maßnahmen gegeneinander abwägt und der Politik eine Empfehlung ausspricht. Nach dieser Ansicht ist Prämisse (2) wertfrei, Werturteile kommen lediglich in Prämisse (1) vor. Es geht der positiven Ökonomie um die Beurteilung, ob zum Beispiel ein Staudamm die Ziele und Maßnahmen erfüllen kann, und nicht, ob es überhaupt sinnvoll ist, einen Staudamm zu bauen. Prämisse (1) enthält ein Werturteil und ist so unabhängig von der wertfreien Prämisse (2).

Friedman argumentiert für eine strikte Trennung zwischen normativer und positiver Ökonomie. Positive Ökonomie soll prinzipiell unabhängig von einer bestimmten ethischen Position oder einem normativen Urteil sein. […] . Positive Ökonomie solle, und laut Friedman sei sie dazu auch in der Lage, eine objektive Wissenschaft sein – analog zu den Naturwissenschaften. Friedman räumt zwar selbst ein, dass es teilweise schwierig sei, diese Objektivität zu erreichen, dennoch gebe es für ihn keinen fundamentalen Unterschied zwischen den Wissenschaften. […] Diese positiven Urteile seien die Basis für die Diskussion normativer Positionen. […] Eine politische Entscheidung basiere auf einer Vorhersage über die Folgen der jeweiligen Entscheidung. Diese Vorhersage sei ein positives Urteil. Zwei Personen können sich durchaus über eine der vorhergesagten Konsequenzen einer politischen Entscheidung einig sein (positiv), aber uneinig über die Einschätzung dieser Konsequenz (normativ). Positive Ökonomie könne also ein objektives und wertfreies Urteil unabhängig von normativen Implikationen anbieten. Normative Elemente fänden sich lediglich in Ziel und Einschätzung von ökonomischen Vorhersagen. Die Vorhersage selbst sei wertfrei […].

Das Ziel jeder positiven Wissenschaft, zu der Friedman wie gesagt auch die Wirtschaftswissenschaften zählt, sei die Entwicklung einer Theorie oder Hypothese, die sichere Vorhersagen über noch nicht beobachtete Phänomene treffen könne. Nur empirische Fakten können dann schlussendlich zeigen, ob eine Hypothese als gültig angenommen oder als ungültig zurückgewiesen werden müsse […]. Das ist ein zentraler Punkt in Friedmans Argumentation. Für Friedman kann eine Hypothese nur durch die Empirie widerlegt werden. Könne eine Hypothese zuverlässig Vorhersagen treffen, die sich als empirisch richtig erweisen, sei sie gültig. Dies gelte unabhängig von den Vorannahmen, die in die Hypothese eingeflossen sind. Es sei also durchaus möglich, dass eine gültige Hypothese falsche Vorannahmen beinhaltet.[…] Die Vorannahmen einer Hypothese müssen nicht deskriptiv realistisch sein, sondern lediglich fundierte Annäherungen, die für die jeweilige Hypothese relevant sind. Eine Hypothese werde primär danach bewertet, wie viel sie erklären kann und wie wenig sie dafür benötigt.[…]

Die Methodologie Friedmans stand schon früh in der Kritik, sowohl von Ökonom_innen als auch von Philosoph_innen. Die positive Ökonomie gilt inzwischen als überholt […]. Dennoch finden sich viele Elemente von Friedmans positiver Ökonomie noch in den modernen Wirtschaftswissenschaften […].

Die Kernpunkte sind dabei das Postulat der Werturteilsfreiheit von deskriptiven Aussagen und darauf basierenden Hypothesen, die Realitätsferne von Annahmen und Modellen, der Fokus auf die Vorhersagefähigkeit von Hypothesen und die methodologische Symmetrie zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. Die Annahmen finden sich auch in ‚Grundzüge der Volkswirtschaftslehre‘ wieder, in dem die Autoren wirtschaftswissenschaftliche Modelle mit Anatomiemodellen aus dem Biologieunterricht vergleichen. Beide Modelle seien schließlich Idealisierungen, die die Realität abbilden sollen. Friedmans Einfluss auf die Arbeitsweise und das Selbstverständnis der Wirtschaftswissenschaften ist daher nicht zu unterschätzen.[…]

Kritik aus der Wissenschaftsphilosophie

[Ist es also] möglich […] Werteinflüsse auf den wissenschaftlichen Prozess selbst zu minimieren? Gegen diese Ansicht gibt es eine Reihe von wissenschaftsphilosophischen Einsprüchen […]. Erstens: Die Idee der Sozialwissenschaft mit naturwissenschaftlichen Methoden. Sozialwissenschaftliche Forschung wird […] direkt von sozialen Problemen und Fragestellungen beeinflusst. So fließen automatisch bestimmte Werte und Vorannahmen in die Forschung mit ein. Das unterscheidet die Sozialwissenschaften von den Naturwissenschaften: die Unmöglichkeit einer starken Wertfreiheit, also der Unabhängigkeit wissenschaftlicher Theorien und Hypothesen von nicht-epistemischen [= dem wissenschaftlichen Prozess äußeren] Werten. […] Ohne eine Form von evaluativer [= bewertender] Vorstellung von einem Gegenstand ist keine Sozialwissenschaft möglich […]. Ein_e Sozialwissenschatler_in hat eine gewisse bewertende Vorstellung von Inflation, sozialer Ungleichheit, Rassismus und anderen sozialen Phänomenen. Ein_e Naturwissenschaftler_in hat diese bewertende Vorstellung nicht. Zweitens: das wissenschaftstheoretische Problem der Unterdeterminierung [Unterbestimmtheit] empirischer Theorien durch die Evidenz [Beweislage]. Der bekannteste Vertreter dieser Thesen ist die Duhem-Quine-These. Diese nimmt eine Unterbestimmtheit von wissenschaftlichen Theorien durch die empirischen Daten an. Das bedeutet, dass die empirischen Daten nicht ausreichen, um eine bestimmte Theorie zweifelsfrei zu bestätigen. Die empirischen Daten können also mehrere Theorien zugleich empirisch bestätigen […].

Auf die Wirtschaftswissenschaften bezogen bedeutet das etwa, dass, wenn ein Modell genutzt wird, dieses mit verschiedenen anderen Hypothesen zusammenhängt, etwa dem Konzept des rationalen Agenten. Willard Van Orman Quine verwendet das Beispiel, dass so gut wie alle wissenschaftlichen Theorien die gemeinsamen Hypothesen von Logik und Mathematik benutzen. Das bedeutet, dass durch Zurückweisung einer Hypothese umfangreiche Änderungen an dem Theorienetz nötig werden könnten. Werteinflüsse können so entstehen, da entschieden werden muss, wie und ob diese Anpassung geschieht sowie welche Hypothesen es wert sind[,] beibehalten oder verworfen zu werden. […] Hypothesen sind nicht vollständig durch die empirischen Daten determiniert, daher ist die Wahl der Theorie abhängig von Werten und Hintergrundannahmen.

Drittens: der Einfluss und die Bestimmung von Werten in der Wissenschaft. Die Wissenschaftstheorie unterscheidet epistemische und nicht-epistemische Werte. Epistemische Werte bestimmen den Erkenntnisanspruch der Wissenschaft oder die Natur wissenschaftlichen Wissens. Dazu gehören beispielsweise die […] Werte […] Tatsachenkonformität, Widerspruchsfreiheit, Reichweite, Einfachheit und Fruchtbarkeit […]. Werte werden dabei zur Beurteilung von wissenschaftlichem Wissen herangezogen und prägen dieses entscheidend mit. Nichtepistemische Werte sind zum Beispiel ethische und soziale Werte. Ethische Werte dienen dem Schutz von Individuen, zum Beispiel dem Schutz von Menschenrechten. Experimente dürfen keine Menschen gefährden, es geht also um die Legitimität der wissenschaftlichen Methoden. Soziale Werte bringen Urteile über gesellschaftliche Gruppen zum Ausdruck […]. In den sozialen Werten finden sich gesellschaftliche Meinungen und Einstellungen wieder, also die impliziten Werthaltungen des Wissenschaftlers. Werteinflüsse auf die Wissenschaft haben in der Wissenschaftstheorie keine kontroverse Position mehr. Werte sind nicht schädlich, sondern teilweise konstitutiv für wissenschaftliches Wissen. Das Ziel ist, herauszufinden, welche Werte der Wissenschaft nutzen und welche nicht.“

Der Text im Lernabschnitt „Ökonomie für Expertinnen: Wie wertfrei ist die Volkswirtschaftslehre? Ein bisschen Wissenschaftsphilosophie“ ist eine gekürzte Fassung des Textes „Wertfreiheit und Objektivität. Eine wissenschaftsphilosophische Kritik an der epistemischen Autorität wirtschaftswissenschaftlicher Theorien und Methoden, in: Soziologiemagazin, 1-2015, S. 56–80“ von Sebastian Gießler, hier dank freundlicher Unterstützung des Autors lizenziert unter CC BY 4.0.

Das Video „positive und normative Aussagen | VWLweb | Goethe Uni Frankfurt | studentisches eLearning-Projekt“ von VWLweb ist lizenziert unter CC BY 3.0.

Das Video „#Kurz: Die Duhem-Quine-These und wissenschaftlicher Holismus (Wissenschaftstheorie)“ von gap: Die Gesellschaft für Analytische Philosophie ist lizenziert unter CC BY 3.0.